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Johanna Spyri (1827-1901) debütierte als religiöse Schriftstellerin mit pietistischem Hintergrund. Anders als ihre etwa 50 anderen Erzählungen für Kinder und auch für Solche, die Kinder lieb haben, so die Zueignung aller ihrer Schriften – blieben die beiden Heidi-Bände bis heute Erfolgsbücher; sie sind in 35 Sprachen übersetzt, ihre Gesamtauflage liegt bei 50 Millionen, es existieren allein bis jetzt 15 Verfilmungen.

Die Geschichte vom 'Naturkind' Heidi, das in den Schweizer Bergen unter der Obhut des Alm-Öhi frei und ungebunden aufwächst; dann in die große Stadt Frankfurt verschickt wird, wo es als Gespielin der kranken Klara lesen, schreiben und beten lernt, aber vor Heimweh sterbenskrank wird, bis man es wieder in die Berge zurückläßt, wo alles wieder ins Lot kommt und sogar Klara wieder gesund wird, ist nur vordergründig eine Geschichte von belohntem Glauben und Gottvertrauen. Auch im Genre des Heimatromans, der in der Antihaltung zur Großstadt die Irritation über die Modernisierungsschocks der Industrialisierung verarbeitet, geht sie so einfach nicht auf. Zwar wird eine ideale Bergwelt als Hort einfachen, tätigen Lebens im Einklang mit der Natur und den Zyklen der Jahreszeiten entworfen, dem die krankmachende, durch zivilisatorische Regeln erstarrte Großstadt schroff entgegengestellt wird. Doch geschieht das weniger in Übereinstimmung mit dem zeittypischen Kulturpessimismus als vielmehr als gebündeltes Ergebnis pietistischer Introspektion und regressiver Wunscherfüllungsphantasien: Bergwelt und Großstadt fungieren hier auch als Orte einer Seelengeschichte, in der die kleine Heldin aus ihrer 'paradiesischen' Übereinstimmung mit der Natur vertrieben wird, Verlorenheit in der Ferne erfährt, um schließlich unverändert, aber um die Erfahrung der Entfremdung reicher, wieder in den früheren Gnadenzustand zurückzukehren.

Anders als es der überdeutliche intertextuelle Bezug zu Goethes Wilhelm Meister nahelegt, ist Heidis Lehr- und Wanderjahre kein Entwicklungs- oder Bildungsroman, sondern eher der Roman einer verweigerten Zivilisierung, eine Verteidigung der Kindheit nicht nur im sentimentalen Erwachsenenblick.

Wie viele andere Helden von Kinderbuchklassikern führt Heidi längst eine vom Buchtext unabhängige Existenz. In den vielfältigen medialen Verwertungen und ihren Anschlußprodukten ist ihre Entwicklung zum prominentesten Schweizer Markenartikel und globalisierten Medienstar gut zu verfolgen.

©HeK

Sekundärliteratur