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* 29.04.1895, St. Petersburg
† 22.08.1970, Leningrad

Folklore- und Märchenforscher

Morphologie des Märchens (1928) ist eine frühe strukturalistische Arbeit zur Erzähltextanalyse, in welcher der russische Märchenforscher Propp sich nicht für die erzählten Begebenheiten der von ihm untersuchten russischen Zaubermärchen interessiert, sondern die gattungstypischen Einheiten der Handlung und die Regeln ihrer Zusammenstellung untersucht. Dabei stellt er fest, daß man auf der Handlungsebene (histoire, plot) eine Tiefenstruktur erkennen kann, deren Elemente in jedem Zaubermärchen in einer bestimmten Reihenfolge wieder auftauchen. Diese Tiefenstruktur ist jedem Leser intuitiv bekannt, der Zaubermärchen von anderen Textgattungen (z.B. der Fabel oder Kurzgeschichte) unterscheiden kann, ohne daß er sie sich bewußt machen müßte.

Es ist Propps Ziel, die Merkmale der zugrundeliegenden Handlungsstruktur zu erkennen; er will in direkter Analogie zur Sprache und ihrer zugrundeliegenden grammatischen Struktur eine 'Grammatik des Zaubermärchens' entwerfen. Dabei zerlegt er z.B. das Motiv 'ein Drache entführt die Tochter eines Königs' in eine Kette kleinster Einheiten, die jeweils austauschbar sind: Der Drache könnte auch eine Hexe oder ein Riese sein, die Tochter jedes andere geliebte Wesen, der König ein anderer Vater und die Entführung eine andere Form des Verschwindens. Der Leser wird, unabhängig von der konkreten Ausfüllung im einzelnen Märchen, die gleiche Erwartungshaltung an den weiteren Handlungsverlauf haben.

Kernthese der Morphologie des Märchens ist daher die Feststellung, daß es für die untersuchten russischen Zaubermärchen genau 31 (Handlungs-) Funktionen gibt, die zwar nicht immer in vollständiger Anzahl, aber stets in der gleichen Abfolge in jedem Märchen anzutreffen seien. Unter Funktion versteht Propp eine Aktion einer handelnden Person [...], die unter dem Aspekt ihrer Bedeutung für den Gang der Handlung definiert wird, zum Beispiel 'Kampf gegen das Böse', 'Rettung des Helden', 'Erfüllung einer auferlegten schwierigen Aufgabe'. Das heißt, daß die Handlungen wie auch die Handlungsrollen (sog. Aktanten: Held, Gegenspieler, Opfer und ihr Vater, falscher Held, Geber des Zaubermittels, Helfer, Aussender des Helden) in den Märchen an bestimmten Stellen austauschbar sind: Einerseits kann eine bestimmte Handlung verschiedene Funktionen annehmen, andererseits können verschiedene Handlungen funktional identisch sein. Der funktionale Wert eines konkreten Handlungselements (oder eines Aktanten) für den gesamten Handlungsverlauf läßt sich demnach nicht an diesem selbst ablesen, sondern ergibt sich erst aus der Position, die es in der Struktur des ganzen Märchens durch die anderen Elemente zugewiesen bekommt. Der Held kann also ein Schloß bauen, um sich gegen einen Widersacher zu schützen oder um eine ihm auferlegte Aufgabe zu erfüllen, aber den Widersacher auch bekämpfen oder sich zum Schutz vor ihm mit einer Gegenmacht verbünden.

Obwohl noch etwas schematisch (z.B. ohne Alternativen, was die Kette der Handlungsfunktionen betrifft), hat Propp mit Morphologie des Märchens den Grundstein zu einer strukturalen Analyse von Erzähltexten geliefert, die in den sechziger Jahren von der französischen Erzählforschung (Barthes, Bremond, Greimas, auch Eco in Italien) aufgegriffen und produktiv weitergeführt worden ist. Die Grenzen dieses Analysemodells sind allerdings schnell erreicht, wenn man die Rahmen formelhafter Literatur (Märchen, Abenteuerroman usw.) verläßt und komplexere, vor allem moderne Prosa untersuchen will. Sie scheint nicht nur neue Inhalte, sondern auch stetig neue Formen zu entwickeln, die die herkömmlichen Strukturerwartungen der Leser irritieren.

©pflug

Quelle

  • Morphologie des Märchens (1928, dt. 1972), S. 27 und 79f.

Sekundärliteratur

  • R. Barthes: Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen, in: ders.: Das semiologische Abenteuer, Frankfurt am Main 1987, S. 102-143.
  • J. Culler: Structuralist Poetics, London 1975.
  • K. Eimermacher: Nachwort, in: Morphologie des Märchens, München 1972.