Der Spionage- oder Agentenroman ist keineswegs - wie oft behauptet - eine Unterart des Kriminalromans, sondern ein strukturell eigenständiges und historisch relativ genau eingrenzbares Genre der modernen Spannungsliteratur. Sein Thema ist die Spionage, also die Gewinnung von relevanten Informationen, die in militärischen, politischen oder auch technisch-wirtschaftlichen Konflikten gegen den ursprünglichen Besitzer verwendet werden können, der sie deshalb vorbeugend zu schützen sucht (Spionageabwehr). Im englischen Sprachgebrauch - die Gattung ist von Anfang an britisch geprägt - bezeichnet intelligence sowohl jene Informationen selbst, als auch den organisatorischen, personellen und technischen Aufwand zu ihrer Gewinnung, also den Geheimdienst, der seinerseits von der counter-intelligence (Spionageabwehr) bekämpft wird.
Die Grundformel aller spy stories ist demnach die eines Zweikampfs von Held und Gegenspieler samt ihren Helfern (und nicht wie beim Kriminalroman die eines Rätsels). Insofern ist sie mit den Formen des abenteuerlichen Erzählens, vom Märchen bis zum Abenteuerroman verwandt und kann mit den gleichen strukturellen Methoden analysiert werden wie diese. Umberto Eco hat dies gezeigt, indem er Vladimir Propps Schema der Märchen-Analyse in variierter Form auf Ian Flemings James Bond-Romane anwandte. Da die Handlungsdynamik eindeutig vorwärts drängt, kann man den Spionageroman auch als eine Variante des Thrillers bezeichnen.
Die strukturelle Entgegensetzung von Gut und Böse, Schwarz und Weiß, die der Spionageroman mit dem Märchen und dem abenteuerlichen Roman teilt, ist auf unterschiedliche Art historisch konkretisiert worden. Zwischen 1900 und 1914 erscheinen in Großbritannien die ersten spy stories, in denen die englischen Helden die Absichten deutscher Bösewichte unter Oberbefehl ihres Kaisers abwehren. Im Rätsel der Sandbank von Erskine Childers (1903), dem ersten Klassiker des Genres, wird beispielsweise eine Invasion Großbritanniens durch ostfriesische Fischerboote (!) verhindert; aber der Roman ist dennoch ganz hübsch zu lesen. National gesinnte Autoren wie John Buchan (Neununddreißig Stufen, 1913, später von Alfred Hitchcock verfilmt) und andere treiben in den Kriegs- und Nachkriegsjahren die Schematisierung und die propagandistische Schwarz-Weiß-Zeichnung weiter voran. Indessen hatte einer der größten Romanciers der Epoche überhaupt, Joseph Conrad, in seinem Roman Der Geheimagent (1907) aber auch schon die realistischen, um nicht zu sagen die tragischen Aspekte des Geheimdienstwesens thematisiert. Eben hier knüpfen in der Zwischenkriegszeit einige Autoren an, die - teilweise aufgrund persönlicher Erfahrungen - die persönlichen Ambivalenzen des Spions und die bürokratisch-politischen Widersprüche und Absurditäten des Geheimdienswesens ins Zentrum rücken.
Zu nennen sind W. Somerset Maughams Erzählung Ashenden (1928) und die Romane von Graham Greene in verschiedenen Spielarten: psychologisierend in Orientexpress (1932), satirisch in Unser Mann in Havanna (1958), tragisch in Der menschliche Faktor (1978). Eric Ambler entwickelt eine eigene, betont abenteuerliche Variante, eine Art von politischem Pikaroroman (von Die Maske des Dimitrios, 1939, bis Mit der Zeit, 1981).
Bei Greene, aber auch bei der jüngeren Generation löst der Kalte Krieg zwischen Ost und West die englisch-deutsche Konfrontation ab. Zugleich tritt das "technische" Thema der Spionage gegenüber dem moralischen des Verrats in den Hintergrund. Dabei spielen zeithistorische Fälle, etwa der des britischen Geheimdienstoffiziers und sowjetischen Agenten Kim Philby eine wichtige Rolle. John le Carré, der 1963 mit Der Spion, der aus der Kälte kam, ein erfolgreiches Debüt feierte, fiktionalisierte den Fall Philby in Bube, Dame, König, As von 1974, dem ersten Band einer Trilogie um den legendären Geheimdienstchef George Smiley. Auch le Carrés folgende Romane (bis Der ewige Gärtner, 2001) bestechen durch Handlungsführung, Psychologie und erzählerische Virtuosität. Man hat ihn jüngst einen "König ohne Rivalen" genannt. - Nicht vergessen sollte man allerdings, dass zumindest der Breitenwirkung nach sein Landsmann Ian Fleming mit seinen action-betonten und schematisch konstruierten James Bond-Romanen (seit Casino Royale, 1953) zu Zeiten des Korea- und des Vietnamkriegs noch erfolgreicher war. Zu beobachten ist dabei auch, wie dieser Erfolg den Romanhelden ohne Mühe seinen eigenen Schöpfer überleben und definitiv ins Medium des Films überwechseln lässt (wo er inzwischen ja auch mehrere Darsteller verschlissen hat).
Man hat vermutet, dass der Spionageroman mit dem Ost-West-Gegensatz der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts seine Substanz verloren hätte. Bei le Carré lässt sich der Versuch beobachten, das alte Genre auf neue Krisen und Konflikte einzustellen, wobei sich dann vielleicht die Kategorie Spionageroman als zu eng erweist und durch einen variablen politischen Spannungsroman ersetzt werden müsste.
© JZ
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