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Zeitraffungen

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Eberhard Lämmert (geb. 1924) hat als einer der ersten Literaturwissenschaftler versucht, eine systematische Beschreibung der epischen Erzählung zu liefern. In seinem Buch Bauformen des Erzählens (zuerst 1955) behandelt er Fragen der Zeit, Probleme der Redewiedergabe und die Mittlerrolle des Erzählers im epischen Kunstwerk, das er vor allem unter dem Aspekt seiner sphärischen Geschlossenheit betrachtet. In der heutigen Erzählforschung werden seine Untersuchungen noch immer benutzt - auch wenn sie durch die Arbeiten des französischen Strukturalisten Gérard Genette starke Konkurrenz bekommen haben. (vgl. Zeitstruktur bei Genette)

Ausgehend von den beiden Ebenen Erzählzeit und erzählte Zeit (vgl. auch histoire und discours) unterscheidet Lämmert drei mögliche Relationen.

Eine recht seltene Variante bildet dabei das 'zeitdehnende Erzählen'. In diesem Fall ist die 'Erzählzeit' länger als die 'erzählte Zeit'. Ein solches Verfahren kann schnell ablaufende Bewußtseinsprozesse sprachlich wiedergeben. Wenn beispielsweise eine Romanfigur ihr Frühstück im Bett einnimmt und der Erzähler die Gelegenheit nutzt, ihre gleichzeitig ablaufenden Gedanken auf 100 Seiten auszubreiten ...

Im zweiten Fall, dem 'zeitdeckenden Erzählen', fallen 'Erzählzeit' und 'erzählte Zeit' zusammen, sind gleich lang. Ein typisches Beispiel für diese Form der Zeitbehandlung sind Dialoge, in denen die Worte der Figuren in direkter Rede ungekürzt wiedergegeben werden.

Die meisten Erzählungen sind (übrigens auch im Alltag) jedoch so konstruiert, daß die 'erzählte Zeit' deutlich länger ist als die ´Erzählzeit´. Hier spricht man von 'zeitraffendem Erzählen'. Da das Leben niemals komplett - also lückenlos von Anfang bis Ende - erzählt werden kann, ist jeder Erzähler geradezu gezwungen, Ereignisse in verschiedenen Formen zusammenzufassen bzw. zusammenzuraffen. Die verschiedenen Raffungsarten, (nach Lämmert), sind dabei folgende:

Die extremste Form der Zeitraffung bildet die 'Aussparung' bzw. der 'Zeitsprung', etwa in der Form Drei Jahre später .... Hierbei wird ein Zeitabschnitt schlicht übersprungen; sei es, um für die Geschichte Unwichtiges wegzulassen, oder auch - wie in Detektivgeschichten - bewußt etwas Wichtiges zu unterschlagen ...

Des weiteren unterscheidet Lämmert drei Raffungsarten im engeren Sinne. Bei der 'sukzessiven Raffung' handelt es sich um "eine in Richtung der erzählten Zeit fortschreitende Aufreihung von Begebenheiten. Die Grundformel dieser Raffungsart ist das Dann ... und dann..." (S. 83) "Sie nahm nach dem Frühstück die U-Bahn bis zum Berliner Platz, dann ging sie zum Narratologie-Seminar, und dann in die Bibliothek, um Lämmerts 'Bauformen des Erzählens' auszuleihen."

Die 'iterative Raffung' hingegen "faßt einen mehr oder weniger großen Zeitraum durch Angabe einzelner, regelmäßig sich wiederholender Begebenheiten" (S. 84) zusammen, ihre Grundformel lautet: "Immer wieder in dieser Zeit ...". Also: "Im Sommer fuhr sie jeden Tag mit dem Fahrrad zur Universität."

Mit 'durative Raffung' schließlich werden "allgemeine, den ganzen Zeitraum überdauernde Gegebenheiten" (S. 84) bezeichnet. Sie läßt sich mit der Formel "Die ganze Zeit hindurch ..." beschreiben: "Während ihres gesamten Studiums hat sie nebenbei für eine Werbeagentur gearbeitet." Da die letzten beiden Formen der Zeitraffung häufig gemeinsam auftreten, spricht Lämmert auch zusammenfassend von 'iterativ-durativer Zeitraffung'.

Oft haben die unterschiedlichen Raffungsarten die Funktion, den Text in Erzählabschnitte oder -phasen zu gliedern. Wichtig bleibt anzumerken, daß die Raffungen selbst den chronologischen Ablauf der Ereignisse keineswegs durcheinanderbringen. Störungen in der Chronologie hat Lämmert dagegen unter dem Stichpunkt Rückwendungen und Vorausdeutungen abgehandelt.

© SR

Quelle

  • Eberhard Lämmert: Bauformen des Erzählens, Stuttgart 1967.

Sekundärliteratur

  • J. Vogt: Aspekte erzählender Prosa, 8. Aufl., Opladen, 1998, Kap. 3.