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griech.epoche: Haltepunkt, Zeitpunkt eines bedeutsamen Ereignisses als Ausgangspunkt einer neuen Entwicklung

Eine (literarische) "Epoche" wird als abgrenzbarer Zeitraum verstanden, in dem bestimmte Merkmale als repräsentativ für die zugehörigen literarischen Texte angenommen werden, und diese so eindeutig von Texten anderer Zeiträume / Epochen unterschieden werden können.

Der Epochenbegriff scheint zunächst unproblematisch. Er ist allgegenwärtig in der Literaturwissenschaft und es gehört zu den Grundübungen in den Proseminaren, die zu besprechenden literarischen Texte einer literarischen Epoche zuzuordnen. Aber zumeist beginnen hier schon die Probleme. Der Text ist in der Regel komplexer oder weniger komplex, als die Kategorien der Epoche es zulassen, oder er trägt noch Eigenschaften einer vergangenen Epoche in sich, beziehungsweise schon Eigenschaften einer folgenden. Die eindeutige Zuordnung eines Textes bleibt ein Ideal.

Woran liegt das? Bei den literarischen Epochen handelt es sich nicht um natürliche Periodisierungen – wie sie z. B. in der Realgeschichte aus den politischen Dynastien abgeleitet werden - , sondern um mehr oder minder künstliche Setzungen. Die uns geläufige Einteilung in Reformation / RenaissanceBarock Aufklärung Klassik / Romantik Realismus gibt es z.B. erst seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Sie ist entstanden im Zuge der immer populärer werdenden Literaturgeschichtsschreibung, die das Material einteilte und auf einen abstrakten Nenner zu bringen versuchte. Die Eingrenzung der Romantik auf den Zeitraum von 1794 bis 1830 – dies nur als Beispiel einer zeitlichen Zuordnung – bleibt immer die Dramatisierung eines Datums, von dem an und bis zu dem man bestimmte Dominanzen feststellen kann. Viele Texte dieser Zeit haben romantische Merkmale, aber sie können auch noch auf den empfindsamen Diskurs oder schon auf realistisches Erzählen verweisen. Es gibt also nur sogenannte 'Kernzonen' romantischer oder realistischer Literatur, die Bestimmung der literarischen Epoche bietet eine grobe Orientierungshilfe, besitzt jedoch keine Objektivität.

In der (deutschen) Literatur des 20. Jahrhunderts wird die stilgeschichtliche Periodisierung zunehmend von einer 'realhistorischen' überlagert: In der Literatur der "Weimarer Republik" (1918-1933) ist die sogenannte "Neue Sachlichkeit" nur eine Stilrichtung neben anderen.

Trotz dieser Ambivalenzen und Überlagerungen scheinen die Epochenbegriffe der Leseerfahrung und Rezeptionsgeschichte nicht grundsätzlich zu widersprechen, davon zeugt schon ihre lange Lebensdauer. Sie werden zwar stets erweitert, differenziert und modifiziert, aber in den seltensten Fällen völlig verworfen.

©rein

Sekundärliteratur

  • M. Brunkhorst: Die Periodisierung in der Literaturwissenschaft, in: M. Schmeling (Hg.): Vergleichende Literaturwissenschaft, Wiesbaden 1981, S. 25-48.
  • J. Grimm: Theorie und Praxis der literaturhistorischen Periodisierung, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte 8 (1984), S. 124-140.
  • R. Rosenberg: Epochen, in: H. Brackert und J. Stückrath (Hg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 269-280.