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Systemtheorie und Literatur

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Die systemtheoretische Literaturwissenschaft ist ein weites Feld. Versucht man sie auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu bringen, kann man sagen: Sie ist weniger eine Methode zur Interpretation / Analyse eines einzelnen literarischen Textes in seiner Ganzheit (Hermeneutik), sondern vielmehr ein Ansatz, der sich der Literatur als einem sozialen Phänomen nähert. Dies erscheint nur folgerichtig, wenn man bedenkt, dass die meisten Literaturwissenschaftler dieser Forschungsrichtung als ihren geistigen Vater einen Soziologen, nämlich Niklas Luhmann nennen.

Literatur ist ein System, in dem nach bestimmten Regeln Werke produziert werden, diese Werke eine bestimmte Funktion haben und ihre Wahrnehmung als Kunstwerke auf bestimmte Art und Weise gesteuert wird. Weiterhin sieht der Systemtheoretiker die literarischen Texte als Aussagen über gesellschaftliche Veränderungen oder als Vorbereiter derselben. Der gesellschaftliche Wandel wird oftmals erst durch die Sinnproduktion literarischer Texte ermöglicht. So finden Sie die Idee von der Freiheit des Menschen zunächst in Philosophie und Literatur, also in Texten, die im weitesten Sinne literarisch sind. In Abgrenzung zur Empirischen Literaturwissenschaft, die sich häufig auf die Systemtheorie beruft, geht es der hier vorgestellten Richtung der Literaturwissenschaft nicht nur um die sozialen Handlungen im 'Literatursystem', sondern auch um die konkrete Gestalt der Texte.

Um die Systemtheorie näher zu charakterisieren, ist es am anschaulichsten, ihre typischsten Fragen vorzustellen. Einige dieser Fragen lauten:

- Wie hat sich Literatur über die Jahrhunderte / Jahrtausende im Kontext der sie umgebenden Gesellschaft entwickelt?
- Welche verschiedenen Funktionen hatte Literatur im historischen Prozess inne?
- Wie hat sich Literatur im Verlauf der Gesellschaftsevolution von der stratifikatorisch differenzierten Gesellschaft zur funktional differenzierten Gesellschaft als autonomes Funktionssystem ausdifferenziert?

Diese Veränderung der Gesellschaftsdifferenzierung bezeichnet die radikalen Umbrüche in Philosophie, Literatur, Politik, Technik, Recht um 1800. Die Systemtheoretiker gehen davon aus, dass - grob gesagt - die Gesellschaft vor 1800 stratifikatorisch strukturiert war. Was heißt das? Das heißt zum einen, dass die Gesellschaft nach Ständen gegliedert war, zum zweiten, dass der Stand, in den man hinein geboren wurde, darüber entschied, inwiefern man an der Gesellschaft teilnehmen konnte. Ob man Recht bekam oder nicht, ob man ein politisches Mitbestimmungsrecht hatte oder nicht, ob man heiraten oder lieben durfte, wen oder wann man will oder nicht, usw. usw. usw..... Diese verschiedenen Bereiche des Rechts, der Politik, der Religion, der Liebe verändern um 1800 ihre Logiken. Sie sind nicht mehr länger an die Hierarchie der Stände gebunden, sondern werden zu autonomen Funktionssystemen, an denen der Einzelne partizipieren kann. Das Rechtssystem entscheidet über Recht und Unrecht, ohne Ansicht der Person ("Justitia ist blind") und ohne direkte Eingriffe von außen, z. B. durch den Fürsten oder andere politische Vertreter.

Jedes System hat eine spezifische Funktion, für die es exklusiv zuständig ist. Das Rechtssystem formuliert Rechtsnormen und sichert sie, das Wirtschaftssystem verteilt knappe Güter, und das Literatursystem hat die Funktion Weltkontingenz zu erzeugen, also der Wirklichkeit eine zweite Wirklichkeit gegenüberzustellen, die schöner, fortschrittlicher, besser, oder einfach nur anders ist als die eigentliche Wirklichkeit. Literatur führt uns also stets eine Alternative vor Augen. Das können, eher auf den Einzelnen gemünzt, alternative Handlungen z.B. in Bezug auf das Ende einer Liebesbeziehung, oder - globaler gesehen - auch vollständig alternative Gesellschaftsmodelle sein.

Welche Fragen stellt nun der systemtheoretisch orientierte Literaturwissenschaftler? Stellvertretend für viele sollen zwei Namen stehen.

Der Hamburger Germanist Jörg Schönert untersucht u.a. anhand von literarischen Texten, Rezensionen, Vorträgen, Akten, inwiefern sich das Literatursystem vom Rechtssystem abgrenzt, also an Autonomie gewinnt. Wer ist schuldig, wer ist unschuldig? Wie argumentiert der Roman, wie argumentiert die Justiz? Schönert sieht für die Zeit vor 1800 eine relative Nähe des rechtlichen zum literarischen Diskurs. Rechts- und Literatursystem beschäftigen sich hauptsächlich mit den sozialen und psychologischen Wurzeln des Verbrechens. Für die Zeit von 1830-1890 kommt er dann zu einem ganz anderen Ergebnis: Die Kriminalnovelle vernachlässigt die Wirklichkeit der Justiz, sie formuliert fortan eine Aufforderung zur moralischen Selbstkontrolle des Individuums. Das Rechtssystem beschäftigt sich nun fast ausschließlich mit der Schuldfrage und der Strafbemessung.

Der Bochumer Germanist Niels Werber hat sich in seiner Doktorarbeit mit dem Problem der Autonomisierung von Literatur um 1800 beschäftigt. Es geht um die Loslösung der Literatur von Normen der Ästhetik (und Poetik) oder der Moral (wie in der Aufklärung). Werber versucht die von Luhmann postulierte Entwicklung zur funktional differenzierten Gesellschaft für die Literatur um 1800 u.a. anhand von zeitgenössischen theoretischen und literarischen Texten nachzuweisen.

Wie in diesen Beispielen skizziert hat der systemtheoretisch arbeitende Literaturwissenschaftler häufig zwei Untersuchungsgegenstände gleichzeitig im Blick: Einerseits beschreibt er Literatur im Kontext gesellschaftlicher Veränderungen, andererseits werden auch literarische Themen, Motive und Genres analysiert. Jeweils mit neuen, der systemtheoretischen Weltsicht geschuldeten Brillen. Wie in diesen Beispielen skizziert hat der systemtheoretisch arbeitende Literaturwissenschaftler häufig zwei Untersuchungsgegenstände gleichzeitig im Blick: Einerseits beschreibt er Literatur im Kontext gesellschaftlicher Veränderungen, andererseits werden auch literarische Themen, Motive und Genres analysiert. Jeweils mit neuen, der systemtheoretischen Weltsicht geschuldeten Brillen.

Die Systemtheorie ist ein anregender, aber auch ein polarisierender Theorieimpuls. Was nicht zuletzt an dem hohen Abstraktionsgrad der theoretischen Grundlagentexte liegt. Sie ist ein junges Paradigma in der Literaturwissenschaft, und man kann mit Spannung ihre weitere Entwicklung abwarten.

© rein

Wichtige Schriften

  • S. J. Schmidt (Hg.): Literaturwissenschaft und Systemtheorie. Positionen. Kontroversen, Perspektiven (1983)
  • J. Schönert: Kriminalgeschichten in der deutschen Literatur zwischen 1770 und 1890. Zur Entwicklung des Genres in sozialgeschichtlicher Persepektive (1983)
  • N. Werber: Literatur als System. Zur Ausdifferenzierung literarischer Kommunikation (1992)

Sekundärliteratur

  • F. Becker / E. Reinhardt-Becker: Systemtheorie. Eine Einführung für die Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2001.
  • H. Müller: Systemtheorie und Literaturwissenschaft, in: K.-M. Bogdal (Hg.): Neue Literaturtheorien. Eine Einführung, Opladen 1990, S. 201-217.
  • C. Reinfandt: Sytemtheorie, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, hg. v. A. Nünning, Stuttgart u.a. 1998, S. 521-523.