Die Poetik des Aristoteles beschäftigt sich in teils grundsätzlicher, teils spezieller Art und Weise mit der Dichtkunst und ihren Gattungen. Sie beschränkt sich nicht auf Texte in schriftlicher Form, sondern meint jede Art eines dichterischen Vortrags: "Die Epik und die tragische Dichtung, ferner die Komödie und die Dithyrambendichtung sowie – größtenteils – das Flöten- und Zitherspiel: sie alle sind, als Ganzes betrachtet, Nachahmungen. Sie unterscheiden sich jedoch in dreifacher Weise voneinander: entweder dadurch, daß sie je verschiedene Mittel, oder dadurch, daß sie je verschiedene Gegenstände, oder dadurch, daß sie auf je verschiedene und nicht auf dieselbe Weise nachahmen." (S. 5) An dieser Stelle ist schon das zentrale Stichwort gefallen: Die Nachahmung ist das Wesen der Dichtung. Die Dichter "ahmen handelnde Menschen nach. Diese sind notwendigerweise entweder gut oder schlecht. Denn die Charaktere fallen fast stets unter eine dieser beiden Kategorien; alle Menschen unterscheiden sich nämlich, was ihren Charakter betrifft, durch Schlechtigkeit und Güte. Demzufolge werden Handelnde nachgeahmt, die entweder besser oder schlechter sind, als wir zu sein pflegen, oder ebenso wie wir." (S. 7)
Die Unterschiede der nachzuahmenden Charaktere konstituieren dann auch die Unterschiede der literarischen Gattungen: "Auf Grund desselben Unterschiedes weicht auch die Tragödie von der Komödie ab: die Komödie sucht schlechtere, die Tragödie bessere Menschen nachzuahmen, als sie in der Wirklichkeit vorkommen." (S. 9) Diese Unterscheidung Aristoteles behielt als sogenannte 'Ständeklausel' bis ins späte 18. Jahrhundert hinein Gültigkeit. Erst mit dem bürgerlichen Trauerspiel Lessings und der damit einhergehenden neuen Dramenpoetik brach diese Beschränkung der Tragödie auf adeliges Personal auf.
Ein weiterer Unterschied der literarischen Gattungen liegt in der Art und Weise, wie sie nachahmen: "Denn es ist möglich, mit Hilfe derselben Mittel dieselben Gegenstände nachzuahmen, hierbei jedoch entweder zu berichten – in der Rolle eines anderen, wie Homer dichtet, oder so, daß man unwandelbar als derselbe spricht – oder alle Figuren als handelnde und in Tätigkeit befíndliche auftreten lassen." (S. 9)
Nun wendet sich Aristoteles der Frage zu, warum der Mensch zur Nachahmung neigt und Dichtkunst produziert: "Allgemein scheinen zwei Ursachen die Dichtkunst hervorgebracht zu haben, und zwar naturgegebene Ursachen. Denn sowohl das Nachahmen ist dem Menschen angeboren, es zeigt sich von Kindheit an, und der Mensch unterscheidet sich dadurch von den übrigen Lebewesen [...], als auch die Freude, die jedermann an Nachahmung hat. Als Beweis hierfür kann eine Erfahrungstatsache dienen. Denn von Dingen, die wir in der Wirklichkeit nur ungern erblicken, sehen wir mit Freude möglichst getreue Abbildungen, z.B. Darstellung von möglichst unansehnlichen Tieren und von Leichen." (S. 11) An dieser Stelle scheint es, als hätte Aristoteles unsere modernen Rezeptionsgewohnheiten schon mitgedacht.
Was ist nun unter dieser Nachahmung, die anscheinend naturgegeben ist, zu verstehen? Geht es um die Nachahmung von tatsächlichen historischen Ereignissen oder (handelnden) Personen? Aristoteles gibt darauf eine eindeutige Antwort, die unsere Vorstellung vom logischen Status und den Grenzen der Literatur lange geprägt hat: "Es [ist] nicht Aufgabe des Dichters [...] mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d.h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche. Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch voneinander, daß sich der eine in Versen und der andere in Prosa mitteilt – man könnte ja auch das Werk Herodots in Verse kleiden, und es wäre in Versen um nichts weniger ein Geschichtswerk als ohne Verse –; sie unterscheiden sich vielmehr dadurch, daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere was geschehen könnte. Daher ist die Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen —das Besondere mit."(S. 29)
Die Festschreibung der Dichtung auf etwas, das geschehen könnte, aber wahrscheinlich sein muß, stellt einerseits gegenüber der Wirklichkeit ein freiheitliches Moment dar, Literatur darf in diesem Moment Fiktion sein; andererseits gibt es für sie gegenüber dem potentiell Denkbaren jedoch ein Moment von Unfreiheit. Der Dichtung, so wie Aristoteles sie definiert, fehlt die Möglichkeit zur Utopie, zur Subversion, zur – zumindest gedanklichen – Zersetzung von gesellschaftlichen Gegebenheiten.
©rein
< Zurück | Weiter > |
---|