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Theologische Hermeneutik

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Das was wir heute als das Alte Testament bezeichnen, ist im Lichte der modernen Bibelwissenschaft als Kanon zu betrachten, u.a. insofern, als es in einem historisch-kulturell bestimmten Kommunikationszusammenhang - im religiösen Judentum - als normative Schrift gilt, die die Werte und Normen des religiösen und des sozialen Lebens für jeden Angehörigen der Glaubens- bzw. Kommunikationsgemeinschaft verbindlich regelt. Deshalb spricht das orthodoxe Judentum von dem Alten Testament als von dem Wort Gottes oder dem Gesetz . Es kann im buchstäblichen Sinne verstanden werden bzw. erfordert eine konkrete, wörtliche Gesetzesinterpretation.

Dieser Sachverhalt ändert sich grundsätzlich mit dem historischen Auftreten des Christusglaubens, der vom Judentum nicht geteilt wird. Während dieses am Status des Alten Testaments festhalten kann, muß die neue christliche Glaubensgemeinschaft eine hermeneutische Aufgabe bewältigen, die man die Synthese der alttestamentarischen Verheißung mit der Verkörperung des Gotteswillens in der Person und Lehre Jesu Christi formulieren kann. Letzlich half man sich über die Jahrhunderte hinweg durch den Rückgriff auf eine linguistisch garantierte Möglichkeit: durch den doppelten oder mehrfachen Schriftsinn. Paßte das wörtliche Verständnis des Alten Testaments nicht in die christliche Lehre, nahm man einen übertragenen, metaphorischen Schriftsinn an und legte ihn aus.

Dabei wird solche Auslegung einerseits in Texten realisiert, die man Interpretationen nennen kann (manche Partien des Neuen Testaments sind selbst solche), andererseits ist aber auch die damals stattfindende Übersetzung aus dem Hebräischen ins Griechische, die für die Ausbreitung des Christentums nötig war, ein wichtiges Organon der Umdeutung. Der weit gezogene Auslegungsspielraum und damit verbunden der Anspruch auf die unangreifbare Autorität der kirchenamtlichen Auslegung der Bibel, untermauert durch das Unfehlbarkeitsdogma der päpstlichen Autorität, führten dazu, daß der europäische Protestantismus in seiner Wendung gegen die Autorität der Römischen Kirche auch zu neuen Auslegungen und neuen hermeneutischen Prinzipien in Bezug auf die Heilige Schrift gelangt.

So wie Luther eine christliche Existenz nicht im Gehorsam gegenüber den kirchlichen Anweisungen, sondern sola fide (allein durch den Glauben) bestimmt, so will er die christliche Glaubenslehre nicht aus den kirchenamtlichen Dogmen, sondern sola scriptura (allein durch die Schrift) gewinnen. Seine hermeneutischen Positionen lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:

  • die prinzipielle Ablehnung der Allegorese (die praktisch aber immer noch eine gewisse Rolle spielt oder sie im späteren Protestantismus neu gewinnt),
  • sein Verständnis der Schriftauslegung als Sprach- und Verstehenproblem im Sinne bewußter Hermeneutik, das ihn zu genauer philologischer Arbeit an den Urtexten bringt und schließlich
  • zur deutschen Bibelübersetzung als einer hermeneutischen Leistung führt.

Diese Übersetzung ist Interpretation, Sinngebung durch Wortwahl - und für ein protestantisches Neuverständnis der Schrift wichtiger als explizite Auslegungen (Kommentare), die Luther ebenfalls gegeben hat. Es versteht sich daneben, daß erst eine volkssprachliche Bibel für eine kirchliche Praxis genutzt werden kann, die sich kritisch gegen die Bevormundung durch die Amtskirche absetzen will.