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Robert Musil

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* 06.11. 1880, Klagenfurt
† 15. 04 1942, Genf

Dichter, Schriftsteller, Maschinenbauingenieur und "Eigenschaftler"

Bereits seine Erstlingserzählung Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906; 1965 verfilmt durch Volker Schlöndorff) ist mehr als die reflektierte Adoleszenzgeschichte vom Drill und Thrill einer Kadettenanstaltsjugend. Schon hier deutet sich das später bestimmende Thema einer 'zweiten imaginären Wirklichkeit' und die Suche nach dem 'anderen Zustand' an: "Das sich unverstanden Fühlen und das die Welt nicht Verstehen begleitet nicht die erste Leidenschaft, sondern ist ihre einzige nicht zufällige Ursache. Und sie selbst ist eine Flucht, auf der das Zuzweiensein nur eine verdoppelte Einsamkeit bedeutet." (Bd. 6, S. 30)

Große Teile von Robert Musils dichterischem und essayistischem Werk thematisieren das ungeheure Mißtrauen gegen die geistigen Hervorbringungen (Ludwig Marcuse) seiner Zeit. Die lakonisch inszenierte Meteorologie eines Sommertags 1913, die den berühmten Auftakt des gigantischen Romanfragments Der Mann ohne Eigenschaften (1930-42) bildet, hat Aufsehen erregt und zusammen mit Musils ausgiebiger, spielerischer Ouvertüre, Eine Art Einleitung, einigen Nachhall gefunden - noch in Umberto Ecos Das Foucaultsche Pendel (dt. 1989) ist eine respondierende Anspielung darauf entdeckt worden. Eher reservierte Kritiker wie Rolf Vollmann störte hingegen "immer öfter der Eindruck einer gewissen Frostigkeit des hier angewandten Witzes; die Lässigkeit ist ein kleines bißchen zu großstädtisch, der Himmel ist ein wenig sehr ubahnweit weg von den Köpfen der Leute." (S. 1033)

Musils grotesker Kakanien-Kosmos rund um das fiktive Projekt einer deutsch-österreichischen 'Parallelaktion' im Jahre 1918 leugnet mit der paradoxen Formel, dass aus ihr 'bezeichnender Weise nichts hervorgehe', jede propädeutische Erzählfunktion und weist auf den gewollten Bruch mit dem linearen Erzählen voraus. Nur: wie läßt sich in einer Zeit der Krise des Romans überhaupt in diesem Medium noch erzählen? Im Kapitel 122 findet sich eine poetologische Selbstdefinition dessen, was der Roman narrativ versuchen will, woran er sich (ohne zum Abschluß zu gelangen) abarbeitet. Der radikale Gefühlsanarchist, Dauerdenker und galante Nichtstuer Ulrich, der sich eine Auszeit vom Berufsalltag genehmigt und allenfalls diplomatisch dilettiert, wird eines Nachts mehr von seinem Gedankenspiel als von der Animationskunst einer Hure erregt. Was sein Möglichkeitsdenken als Alternative zum Wirklichkeitssinn ersinnt (vgl. Kap. 6), das endet vor der dunklen Fläche einer Riesenpfütze, die den Schritt hemmt und zu Beobachtungen von Narrationsgesetzmäßigkeiten überleitet: "Die meisten Menschen sind im Grundverhältnis zu sich selbst Erzähler. Sie lieben nicht die Lyrik, oder nur für Augenblicke, und wenn in den Faden des Lebens auch ein wenig ‚weil' und ‚damit' hineingeknüpft wird, so verabscheuen sie doch alle Besinnung, die darüber hinausgreift: sie lieben das ordentliche Nacheinander von Tatsachen, weil es einer Notwendigkeit gleichsieht, und fühlen sich durch den Eindruck, daß ihr Leben einen ‚Lauf' habe, irgendwie im Chaos geborgen. Und Ulrich bemerkte nun, daß ihm dieses primitiv Epische abhanden gekommen sei, woran das private Leben noch festhält, obgleich öffentlich alles schon unerzählerisch geworden ist und nicht einem ‚Faden' mehr folgt, sondern sich in einer unendlich verwobenen Fläche ausbreitet." (Bd. 2, S. 650)

Wer sich auf diese spiegelglatte Erzähl- und Reflexionsfläche des Romans begibt, mit dem Vivisekteur Ulrich durch Pfützen und Denkabenteuer stakst, hochfliegende und banale Projekte zerstieben sieht, zahllose Politikpläne und Liebesverhältnisse voyeuristisch belauscht, Raum- und Denkordnungen durchfährt, der beschreitet als ein aus dem Möglichkeitsdenken kaum mehr entlassener Leser, jene "Reihen von Übergängen" (Bd. 8, S. 1088), in den sich vormalige Gegensätze flächig auflösen, um allenfalls noch einen "Ordnungsschein über einem Chaos" (Bd. 8, S. 1066) zu gewähren. Eine so sich entfaltende Utopienlandschaft von Andersheiten (R. von Heydebrand) beherrscht den Roman durch die ständigen Versuchsanordnungen 'anderer Wahrnehmung', durch ein Ausprobieren 'anderen Denkens' und das Durchspielen von Gefühlsexperimenten (wie mystische Fernliebe, dauerhafte Ekstase oder auch Formen von Selbstliebe).

Das flächige Riesenwerk verlangt einiges an Ausdauer und wiederholender Lektüre: Wem bei dem Gedanken- und Gefühlskorso schwindlig wird, der darf sich allerdings auch mit Musil trösten und es stückweis versuchen, der angesichts eigener Erfahrungen gegenüber der Literaturgeschichte 1926 die Auskunft gab, "seit Jahren selten ein Buch zu Ende gelesen zu haben, außer es war ein wissenschaftliches oder ein ganz schlechter Roman, in dem die Augen stecken bleiben, als ob man einen großen Teller in Schnaps getränkter Makkaroni hinterschlingen würde. Wenn ein Buch dagegen wirklich eine Dichtung ist, kommt man selten über die Hälfte; mit der Länge des Gelesenen wächst in steigenden Potenzen ein bis heute unaufgeklärter Widerstand. Nicht anders, als ob die Pforte, durch die ein Buch eintreten soll, sich krampfhaft gereizt eng verschließen würde. Man befindet sich, wenn man ein Buch liest, alsbald in keinem natürlichen Zustande mehr, sondern fühlt sich einer Operation unterworfen. Da wird ein Nürnberger Trichter an den Kopf gesetzt, und ein fremdes Individuum versucht, seine Herzens- und Gedankenweisheit einem einzuflößen; kein Wunder, daß man sich diesem Zwange entzieht, sobald man nur kann!" (Bd. 8, S. 1160)

Wer vom "Mann ohne Eigenschaften"-Komplex überwältigt auf Rückzug sinnt, könnte zu Musils Anthologie kleiner Prosa greifen und im Nachlaß zur Lebzeiten (1936) stöbern; dort trifft er auf gemeißelte Kurztexte wie Das Fliegenpapier, Kann ein Pferd lachen? oder Hasenkatastrophe - vor allem aber lohnt hier der in der Debatte um eine öffentliche 'Erinnerungspolitik' von Kunstmanagern und Kulturpolitikern nachhaltig zitierte Beitrag Musils über "Denkmale".

Quelle

  • Robert Musil: Gesammelte Werke in neun Bänden, hg.v. Adolf Frisé, 2. verb. Aufl., Reinbek bei Hamburg 1981.

Wichtige Schriften

  • Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906)
  • Der Mann ohne Eigenschaften (1930-1942)
  • Nachlaß zur Lebzeiten (1936)

Sekundärliteratur

  • Helmut Arntzen: Musil. Kommentar zu dem Roman Der Mann ohne Eigenschaften, München 1982.
  • Wilfried Berghahn: Robert Musil, 17. Aufl., Reinbek bei Hamburg 1993.
  • Renate Schröder-Werle: Robert Musil. Die Verwirrungen des Zöglings Törleß. Erläuterungen und Dokumente, Stuttgart 2001.