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Johann Wolfgang Goethe: Zum Shakespeares-Tag (1772)

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Goethe hielt diese Rede zum Shakespeares-Tag am 14. Oktober 1771 in seinem Frankfurter Elternhaus anläßlich der ersten deutschen Shakespeare-Feier. Die Begegnung mit Shakespeares Werk wird von Goethe als ein Erweckungserlebnis beschrieben:

"Die erste Seite, die ich in ihm las, machte mich auf zeitlebens ihm eigen, und wie ich mit dem ersten Stücke fertig war, stund ich wie ein Blindgeborener, dem eine Wunderhand das Gesicht in einem Augenblicke schenkt. Ich erkannte, ich fühlte aufs lebhafteste meine Existenz um eine Unendlichkeit erweitert, alles war mir neu, unbekannt, und das ungewohnte Licht machte mir Augenschmerzen. Nach und nach lernt‘ ich sehen, und, Dank sei meinem erkenntlichen Genius, ich fühle noch immer lebhaft, was ich gewonnen habe." (S. 224f.)

Das Skakespeare-Theater wird von der damaligen Generation als etwas vollkommen Neues begriffen. Im Anschluß daran bricht Goethe mit jeder Regelpoetik, vor allem mit den drei Einheiten von Ort, Zeit und Handlung. Eine Vorschrift, die Gottsched noch 1730 in seinem Versuch einer Critischen Dichtkunst vor die Deutschen hochgehalten hat. Goethe fährt fort:

"Ich zweifelte keinen Augenblick, dem regelmäßigen Theater zu entsagen. Es schien mir die Einheit des Orts so kerkermäßig ängstlich, die Einheiten der Handlung und der Zeit lästige Fesseln unsrer Einbildungskraft. Ich sprang in die freie Luft und fühlte erst, daß ich Hände und Füße hatte. Und jetzo, da ich sahe, wieviel Unrecht mir die Herrn der Regeln in ihrem Loch angetan haben, wieviel freie Seelen noch drinne sich krümmen, so wäre mir mein Herz geborsten, wenn ich ihnen nicht Fehde angekündigt hätte und nicht täglich suchte, ihre Türme zusammenzuschlagen."

An dieser Stelle macht Goethe deutlich, daß es keine überzeitlichen Regeln für die Produktion von Dramen gibt. War die griechische Tragödie in der Antike eine angemessene Form, um die Gesellschaft zu ihrem Ausdruck zu bringen, wird sie – von den Franzosen im 17. Jahrhundert kopiert – zur Parodie ihrer selbst.

"Und in was für Seelen!
Griechischen! Ich kann mich nicht erklären, was das heißt, aber ich fühl’s und berufe mich der Kürze halber auf Homer und Sophokles und Theokrit, die haben’s mich fühlen gelehrt.
Nun sag' ich geschwind hintendrein: Französchen, was willst du mit der griechischen Rüstung, sie ist dir zu groß und zu schwer.
Drum sind auch alle französischen Trauerspiele Parodien von sich selbst." (S. 224f.)

In Abgrenzung zu Aufklärern wie Lessing bricht Goethe dann auch mit der Vorstellung, im Drama müsse so etwas wie vernunftgemäße Erkenntnisse und vernünftige Moral vermittelt werden. Für Goethe ist klar, daß die Vernunft allein nicht zur totalen Welterkenntnis führt, vielmehr sind es die Empfindungen eines genialen Individuums, die die Welt erschließen:

"Ich! Der ich mir alles bin, da ich alles nur durch mich kenne! So ruft jeder, der sich fühlt." (S. 224)

Dies Postulat sieht Goethe vorbildlich im Shakespeare-Theater verwirklicht.

"Shakespeares Theater ist ein schöner Raritätenkasten, in dem die Geschichte der Welt vor unsern Augen an dem unsichtbaren Faden der Zeit vorbeiwallt. Seine Plane sind, nach dem gemeinen Stil zu reden, keine Plane, aber seine Stücke drehen sich alle um den geheimen Punkt (den noch kein Philosoph gesehen und bestimmt hat), in dem das Eigentümliche unseres Ichs, die prätendierte Freiheit unsres Wollens, mit dem notwendigen Gang des Ganzen zusammenstößt." (S. 226)

Der Dichter ist zu einer Welterkenntnis fähig, die dem nur mit dem Verstand arbeitenden Philosophen versagt bleibt. Der Dramatiker zeichnet jedoch nicht nur ein Bild der Welt, sondern das besondere Verhältnis des Einzelnen zu ihr. An dieser Stelle wird schon angedeutet, was das Drama noch lange thematisch bestimmen wird: der Konflikt des Individuums mit der Gesellschaft.

©rein

Quelle

  • Johann Wolfgang von Goethe: Zum Shakespeare-Tag, in: ders.: Goethes Werke. Kunst und Literatur, Bd. 12, hg. v. Erich Trunz und Hans Joachim Schrimpf, München 1981.