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Sophokles: Antigone (vermutlich 440 v. Chr.)

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Die Geschichte des König Ödipus ist spätestens durch Sigmund Freuds Deutung sprichwörtlich geworden. Bekanntlich hat Ödipus (unwissentlich) seinen Vater erschlagen und seine Mutter geheiratet. Genau gesehen stellt diese berühmte Geschichte jedoch nur einen Ausschnitt aus einem größeren mythologischen Erzählzusammenhang über das Geschlecht der Labdakiden (nach dem Stammvater Labdakos) dar. Darin wird berichtet, Ödipus habe mit seiner Mutter vier Kinder gezeugt: Die beiden Söhne Eteokles und Polyneikes, sowie die beiden Töchter Ismene und Antigone. Nach Ödipus' Tod überwerfen sich die beiden Brüder; es kommt zur Schlacht um Theben, in der sich Eteokles und Polyneikes gegenseitig töten. Daraufhin übernimmt Ödipus' Schwager Kreon die Herrschaft.

An dieser Stelle setzt die Handlung der Antigone ein: Der neue König Kreon verweigert dem Angreifer Polyneikes das Begräbnis, da er Theben angegriffen hat; seine Leiche soll am Strand verrotten und von den wilden Tieren gefressen werden. Im griechischen Verständnis ist das eine schwere Strafe und ein Frevel gegen das göttliche Gesetz. Zumindest sieht die jüngste Schwester Antigone das so. Obwohl Kreon mit der Todesstrafe gegen alle droht, die der Leiche die letzte Ehre erweisen, übertritt Antigone das Verbot und beerdigt ihren Bruder. Zunächst gelingt ihr das im Schutz der Nacht; allerdings wiederholt sie ihre rituellen Handlungen nochmals bei Tage (als ob sie entdeckt werden will) und wird von den Wachen festgenommen. Der aufgebrachte Kreon läßt sie lebendig einmauern und läßt sich weder von ihrem Hinweis auf das göttliche Gesetz noch von den Bitten seines Sohnes Haimon umstimmen - das ist Antigones Verlobter, der den vom Frevel abgestoßenen Volkswillen auf seiner Seite weiß. Erst der Seher Teiresias kann Kreon zur Meinungsänderung bewegen, als er diesen verflucht und voraussagt, daß seine Tat einem Familienmitglied den Tod bringen werde. Kreon will nun alles rückgängig machen, aber es ist bereits zu spät: Antigone hat sich erhängt, Haimon mit dem Schwert selbst entleibt und aus Schrecken darüber gibt sich schließlich auch noch Kreons Frau Eurydike den Tod. Kreon bleibt als gebrochener Mann zurück - der Familienfluch hat schließlich auch ihn erreicht.

Die Deutung der Antigone ist bis heute umstritten - vor allem, was die beiden Protagonisten angeht. Besonders umstritten ist dabei die Figur des Kreon: Ist er nur ein uneinsichtiger Tyrann, wider göttliches Recht und die Humanität frevelnd, den nach mehrfachen Warnungen schließlich die gerechte (wenn auch sehr harte) Strafe trifft? Oder ist er - der neue König, der sich zu Beginn seiner Herrschaft erst noch Respekt verschaffen muß und keine Rücksicht auf Verwandte nehmen darf - nicht auch seinem Volk gegenüber verpflichtet, einem Angreifer, der schließlich die Stadt plündern und die Tempel schänden wollte, die unverdiente Ehre zu verweigern?

Auf der anderen Seite ist aber auch die Figur der Antigone nicht unumstritten geblieben: Zwar wird sie oftmals zur exemplarischen Heldin stilisiert, die es als Einzelne wagt, nur ihrem Gewissen zu folgen und so das Recht der Humanität gegen den Tyrannen ohne Rücksicht auf das eigene Leben durchzusetzen. ("Mitlieben, nicht mithassen ist mein Teil." V. 523 - so lautet ihr berühmtes Diktum.) Diese Deutung findet sich in vielen Bearbeitungen des Stoffes auch im 20. Jahrhunderts: Beispielsweise wird im Prolog der Bearbeitung durch Bertolt Brecht davon berichtet, wie eine Schwester ihren 1945 als Deserteur gehenkten Bruder vom Baum abschneiden will. - Andererseits ist Antigone sehr starr und uneinsichtig in ihrer Argumentation: Grob weist sie die Hilfsangebote ihrer Schwester zurück und zeigt sich zunehmend von einer ausgeprägten Todessehnsucht bewegt.

Daß bis heute noch über die Deutung der Tragödie gestritten werden kann - und das berechtigterweise und mit guten Argumenten -, zeigt vor allen Dingen eines: Es handelt sich um ein herausragendes dramatisches Kunstwerk, das auch nach fast 2500 Jahren noch nicht veraltet ist.

© JK

Quelle

  • Sophokles: Antigone. Tragödie, übers. v. Wilhelm Kuchenmüller, Stuttgart 1955.