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Unter diesem Titel wird die Periode von 1815 bis in die fünfziger Jahre bezeichnet. Andere Bezeichnungen - wie etwa 'Restaurationsepoche' - heben den realgeschichtlichen Rahmen hervor, vor allem die Wiedereinsetzung (Restauration) der alten Herrschaftsstrukturen nach dem Ende der napoleonischen Zeit (1806-1813) und enden entsprechend mit der Revolution von 1848. Der Stilbegriff 'Biedermeier' erkennt solche Zäsuren nicht an, sondern versucht einen Epochenstil zu identifizieren. (Bei den Fragen der literarischen Periodisierung sind die drei Bände von Friedrich Sengles Biedermeierzeit unverzichtbar; für den alltäglichen Gebrauch bietet der dritte Band nützliches Material zu den Autoren der Epoche.) Eine Konzentration auf einzelne Autoren ist wohl am sinnvollsten, wenn man die Epoche unter diesem Begriff sehen will. Es sind dann Figuren wie Annette von Droste-Hülshoff, Eduard Mörike, Jeremias Gotthelf, Franz Grillparzer und Adalbert Stifter, die für den Biedermeierstil als typisch und stilbildend angesehen werden. Gattungspoetisch liegen seine Schwerpunkte in der Novelle und in der Lyrik; das Weltbild des Biedermeiers hängt sehr eng mit Tradition und Regionalität zusammen. Ein einheitlicher Stil läßt sich jedoch nicht feststellen, allenfalls eine mittlere und vermittelnde Ästhetik, zwischen romantischer Stimmung und realistischem Objektivismus, eine Vermenschlichung der Klassik, eine gewisse Idealisierung des als materialistisch empfundenen Jahrhunderts.

Vieles spricht jedoch gegen die Anwendung dieses Epochenbegriffs. Es gibt in der Tat eine Vielzahl von Kleinperioden zwischen 1815 und 1850, der ein einziger Begriff kaum Rechnung trägt. Die erste steht unter dem Einfluß des Goetheschen Alterswerkes sowie der Spätromantik. Die überragende Figur der Epoche - Heinrich Heine - paßt ohnehin kaum in den Rahmen des Begriffs. Die Spannung zwischen dem rigiden Konservatismus der Metternich-Ära und der Zurückhaltung der meisten Schriftsteller läßt sich nur schwer unter einem übergreifenden Stilbegriff untersuchen. Das andere - für ein Verständnis des ganzen 19. Jahrhunderts absolut zentrale - Verhältnis zwischen der 'Biedermeierzeit' und der Zeit nach 1848, dem sogenannten Nachmärz, wird durch den Epochenbegriff verdunkelt. Die unaufhaltsamen Ausbrüche von politischer Unzufriedenheit, die die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts markieren, treten nur sehr episodisch auf, wenn man sie durch die Behauptung stilistischer Kontinuität ausblendet. Man muß keine emanzipatorisch-revolutionäre Erfolgsgeschichte proklamieren (Hambacher Fest, Göttinger Sieben, März-Revolution usw.), um der Epoche gerecht zu werden; aber das Interesse an ihr darf nicht von den realpolitischen Entwicklungen abgesehen, zu denen die Literatur und die Literaten in einem besonders faszinierenden und lehrreichen Spannungsverhältnis standen. Auch bietet diese Zeit, als Geburtsstunde der späteren Germanistik, erste Reflexionen über das Verhältnis Deutschlands zu seiner literarischen Tradition - ein kulturpolitischer Reflexionsprozeß, der wesentlich zum Bild der Epoche gehört. Von kaum überschätzbarer Wichtigkeit ist auch die Entwicklung eines modernen auf ein Massenpublikum zielenden 'Literaturbetriebs' mitsamt einer scharfen Medienkonkurrenz in Deutschland. Die Auswirkungen solcher Entwicklung auf das Selbstverständnis der Schriftsteller und den Stellenwert von Kunst in der Gesellschaft reizen schließlich immer wieder zum Vergleich mit der heutigen Situation.

©HR

Sekundärliteratur

  • J. Habermas: Heinrich Heine und die Rolle des Intellektuellen in Deutschland, in: ders.: Die Moderne - ein unvollendetes Projekt. Leipzig 1992, S. 130-158.
  • E. Neubuhr: Begriffsbestimmung des literarischen Biedermeier, Darmstadt 1971.
  • F. Vaßen: Restauration, Vormärz und 48er Revolution, Stuttgart 1975.