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Bertolt Brecht: Mutter Courage und ihre Kinder. Eine Chronik aus dem Dreißigjährigen Krieg (1950)

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Als "Chronik" wird traditionellerweise die Geschichtsschreibung aus der Sicht jener "Großen" bezeichnet, die die Politik bestimmen, und das heißt vor allem: die über Krieg und Frieden entscheiden - oftmals ohne dabei selbst den Gefahren von Schlachten oder Hungersnöten ernsthaft ausgesetzt zu sein. Brecht dreht in seinem Stück Mutter Courage und ihre Kinder diese Perspektive um. Ihm geht es um einen "plebejischen Blick" auf diejenigen, die die wirklichen Leiden des Krieges zu tragen haben: "Im allgemeinen kann man sagen, daß uns gemeinen Leuten Sieg und Niederlage teuer zu stehen kommen." (S. 139)

Die Protagonistin Anna Fierling, genannt Mutter Courage, ist eine von diesen "Kleinen", die in den Grausamkeiten des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) ihre drei Kinder verliert und völlig verarmt. Allerdings ist sie nicht Opfer in einem Rührstück, sondern versucht als Täterin selber, im Krieg ihren Schnitt zu machen. Sie ist trotz aller Leiden nicht am Frieden interessiert, der aus ihrer Sicht geschäftsschädigend wirkt.

Die Mutter Courage verdient ihr zunehmend schwindendes Geld als Marketenderin, d.h. sie folgt mit ihrem Planwagen dem schwedischen Heer auf seinen Raubzügen durch das zerstörte Deutschland. Sie versorgt den Troß mit den benötigten Waren oder zumindest mit dem, was sich in den verödeten Landstrichen noch auftreiben läßt. Ihr ältester Sohn wird gleich zu Beginn für die Kriegsdienste angeworben, der zweite bald als Zahlmeister eingesetzt, die Tochter, die seit ihrer Mißhandlung durch einen Soldaten verstummt ist, wird von der Mutter für die Geschäfte eingespannt. Alle drei Kinder müssen im Verlauf des Stücks sterben und zwar jeweils an ihren "Tugenden": Der kühne Älteste wird erschossen, weil er in einer kurzen Friedensphase geraubt und geschändet hat (für die selbe Tat war er zu Kriegszeiten ausgezeichnet worden). Der zweite geht an seiner Redlichkeit zugrunde, weil er die Regimentskasse verstecken will und entdeckt wird. Die Tochter schließlich opfert sich in ihrer Kinderliebe, indem sie die Einwohner der Stadt Halle vor den eindringenden Truppen warnt. - Die Mutter selbst läßt sich aber davon nicht umstimmen, sie folgt weiterhin dem Heereszug, nunmehr alleine ihren Planwagen ziehend.

Brecht hat sich stets dagegen ausgesprochen, in diesem Stück die persönliche Tragödie einer Mutter und eine Anklage gegen die Grausamkeiten des Krieges zu sehen. Nachdem die Uraufführung in Zürich 1941 vor allem das Leiden des "Muttertiers" betont und alle politisch-ökonomischen Aspekte ausgeblendet hatte, bemühte sich Brecht für die unter seiner Regie in Berlin 1949 stattfindende Aufführung, die negativen Züge der Courage-Figur stärker zu betonen und sie als "Hyäne des Schlachtfelds" (S. 169) zu zeigen.

Die Identifikation mit der leidenden Mutter hätte auch allen Prinzipien seines Epischen Theaters widersprochen, das sich bekanntlich gegen jede Form der Einfühlung verwehrt. Brecht setzt auch hier Mittel der epischen Form ein: Die Dramaturgie ist offen und nicht auf dramatische Konflikte hin angelegt. Wichtig sind dabei vor allem kommentierende Songs, die ins Spielgeschehen eingefügt sind, und Zwischentitel, die das dargestellte Geschehen vorwegnehmen und das Interesse nicht auf das "Was" sondern auf das "Wie" lenken sollen. Brecht hat die Probearbeiten, bei denen die Schauspieler sich in die neue, epische Darstellungsform einüben sollten, dokumentieren lassen, um ein Modell für sein Theaterkonzept bereitzustellen (die oben angegebene Jahreszahl bezieht sich auf die Druckfassung der überarbeiteten zweiten Auflage der in der Probenarbeit entwickelten Fassung). Der große Erfolg dieser Aufführung führte schließlich zur Gründung des Berliner Ensembles, Brechts eigener Theatertruppe samt zugehöriger Spielstätte. Die Dokumentation der Probearbeiten wirkte zunächst befreiend auf das deutsche Theaterleben, da man glaubte, hier das Vorbild zu einer völlig neuen Spielweise zu finden. Bald darauf aber wurde diese "epische" Spielweise kanonisiert und führte vor allem nach Brechts Tod zu einer starren Formelhaftigkeit der Aufführungen - ganz gegen die eigentlichen Intentionen Brechts.

© JK

Quelle

  • Bertolt Brecht: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Jubiläumsausgabe zum 100. Geburtstag. Bd. 2, Frankfurt/M. 1997.