Der griechische Begriff 'Mimesis' wird häufig mit 'Nachahmung' übersetzt. Die literaturtheoretische Diskussion bezieht sich dabei - wie so oft - auf Aristoteles. Der hatte in seiner Poetik die nachahmende Darstellung einer Handlung als wichtiges Charakteristikum der Literatur bezeichnet. Die Motivation sieht er in einem allgemein-menschlichen Bedürfnis nach Nachahmung begründet. Sie funktioniert auf der Grundlage einer gewissen Ähnlichkeit (auch "Strukturhomologie") zwischen der realen und der fiktiven Welt (vgl. Fiktionale und faktuale Texte). Die 'mimetische' Darstellung hat zur Folge, dass sich der Zuschauer im Theater - denn Aristoteles hat vor allem die Tragödie vor Augen - in eine Handlung einfühlen kann. Er empfindet gemeinsam mit den dargestellten Figuren "Furcht und Mitleid" und wird dadurch von solchen Gefühlen "geläutert". (Aristoteles spricht von Katharsis, was im Griechischen 'Reinigung' bedeutet.) Analog kann man auch von narrativen Texten sagen, daß 'mimetisches' Erzählen - also die möglichst genaue Darstellung der Wirklichkeit - dem Leser die Möglichkeit zur Identifikation mit den Figuren und der Handlung eröffnet.
An dieser Problematik hat sich ein Streit entzündet, der bis heute anhält: Muß der Dichter die Wirklichkeit 'nachahmen', indem er sie gewissermaßen "kopiert"? Oder bedeutet 'Mimesis' nicht viel mehr eine "darstellende Hervorbringung", wobei der Akzent auf der Produktion einer neuen, literarischen Wirklichkeit liegt? Im Laufe der (Literatur-) Geschichte sind unterschiedliche Auffassungen vertreten worden. Viele Schriftsteller und Theoretiker - wie beispielsweise Brecht - haben sich sogar entschieden gegen eine ´mimetische´ Kunst ausgesprochen. Statt auf die "Nachahmung des Natürlichen" haben sie großen Wert gelegt auf den künstlichen Charakter, das Gemacht-Sein der Werke. Sie wollten gerade nicht, daß der Zuschauer oder Leser sich einfühlt, sondern daß er eine kritische Distanz zum Dargestellten entwickelt.
Allerdings stößt die ´mimetische´ Darstellung in erzählenden Texten noch auf ein anderes, grundsätzliches Problem. Wenn 'Mimesis' die Nachahmung der Welt menschlicher Handlungen bedeutet, dann kann mit der Sprache eine Handlung, also eine nichtsprachliche Erscheinung, überhaupt nicht angemessen 'nachgeahmt'werden. Es sei denn, bei den dargestellten Handlungen handle es sich bereits um "Sprachhandlungen", also um die Wiedergabe von Worten, die von den Figuren gesprochen werden. Hinsichtlich der 'Mimesis' muß man also unterscheiden zwischen der Erzählung von Handlungen / Ereignissen und der Erzählung von Worten. Im Unterschied zur theatralischen Darstellung auf der Bühne, wo Handlungen tatsächlich 'nachgeahmt' werden, kann die Erzählung nur einen möglichst hohen Grad an Wirklichkeitsillusion erzeugen. Roland Barthes, ein französischer Zeichentheoretiker und Schriftsteller, hat in diesem Zusammenhang von einem effet de réel, dem "Wirklichkeitseffekt" gesprochen. Er kommt in narrativen Texten vor allem dadurch zustande, daß der Erzähler detaillierte Beschreibungen der Räume und der nichtsprachlichen Handlungen liefert. 'Mimesis' kann bei der Erzählung von Ereignissen also immer nur Mimesis-Illusion bedeuten. Anders verhält es sich bei der Erzählung von Worten. Hier wird die Figurenrede, also sprachlich bereits vorgefertigtes Material, in der Erzählung lediglich "wiederholt". Daher ist es möglich, in diesem Fall von 'Mimesis' im eigentlichen Wortsinne zu sprechen. Allerdings kann der Erzähler die Rede seiner Figuren unterschiedlich genau wiedergeben. Er kann sie originalgetreu "kopieren" oder auch zusammenfassen und kommentieren. Deswegen sollte man bei der Erzählung von Worten unterschiedliche Grade von 'Mimesis' unterscheiden (vgl. Formen der Redewiedergabe und Formen der Bewußtseinswiedergabe).
© SR
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