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* 20.09.1924, Bonn

Germanistischer Literaturwissenschaftler, Wissenschaftsorganisator

"Das Erzählen aber ist ein zeitlicher Vorgang." Mit diesem ebenso grundlegenden wie banalen Satz hatte der Bonner Germanist Günther Müller in seiner Antrittsvorlesung von 1946 die Untersuchung der internen Zeitstrukturen von Erzähltexten angekündigt. Das war einerseits ein - durchaus generationstypischer - Akt der Selbstentnazifizierung; aber doch auch - zaghafte - Hinwendung zu einem sachlich-analytischen Forschungsprogramm. In der Folge konzentrierte Müller sich auf die "Beziehung von Erzählzeit und erzählter Zeit" und versuchte - unter Bezug auf Goethes Konzept von den Naturformen der Dichtung - eine Morphologische Poetik zu entwerfen. Mit größerer Konsequenz hat sich sein Schüler Eberhard Lämmert sodann um eine differenzierte Analyse der erzählerischen Zeitstrukturen bemüht und sie in seiner Doktorarbeit mit dem epochemachenden Titel Bauformen des Erzählens (1955) systematisiert. Damit zeichnet sich - wie auch in dem nur zwei Jahre später publizierten Werk Die Logik der Dichtung von Käte Hamburger - erstmals eine analytisch und funktional orientierte Variante innerhalb der stark gefühlsorientierten werkimmanenten Interpretation ab, eie Art deutscher Sonderweg zur strukturalen Analyse von narrativen Texten. (Für die wissenschaftshistorische Situation ist es jedoch typisch, daß beide Werke erst in den sechziger Jahren verstärkt rezipiert wurden.)

Analytisches Kernstück von Lämmerts Untersuchung ist - wie von Müller proklamiert - die differenzierende und systematisierende Darlegung der "Beziehung von Erzählzeit und erzählter Zeit". Lämmert verweist auf die grundlegende Notwendigkeit temporaler Verkürzung im Erzählvorgang (der Zeitraffungen), die freilich auch ihre Ausnahmen kennt, er unterscheidet demnach zeitraffendes, zeitdeckendes und zeitdehnendes Erzählen, und weiterhin verschiedene, vielfach kombinierbare Raffungsformen und -intensitäten, die das 'Erzähltempo' eines Textes bestimmen. Auch die Umstellungen bzw. Diskrepanzen von Handlungs- und Erzählchronologie (Rückwendungen und Vorausdeutungen werden näher bestimmt und in ihrer Funktion für die innere Gliederung eines Erzähltextes bzw. seine umfassende Erzählstrategie untersucht.

Lämmerts analytische Begrifflichkeit hat sich seit den sechziger Jahren als literaturwissenschaftliches Elementarwissen durchgesetzt und wird erst in neuester Zeit durch die systematischere und trennschärfere Terminologie verdrängt, die der französische Literaturtheoretiker Gérard Genette entwickelt hat (auch bei ihm kommt den Zeitstrukturen besonderes Gewicht zu).

Insgesamt ist Bauformen des Erzählens heute wohl eher als Dokument des mühsamen Ablösungsprozesses der deutschen Germanistik von ihrer problematischen Tradition denn als systematisches Arbeitsbuch lesenswert. Unbestreitbar - und in der internationalen Erzählforschung unbestritten - ist aber der analytische Impuls, der von diesem Werk eines jungen Germanisten ausging, der sich in den folgenden Jahrzehnten vor allem durch sein institutionelles Wirken als eine herausragende Figur des germanistischen Fachs und des deutschen Wissenschaftssystems profilierte.

© JV

Quelle

Sekundärliteratur