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Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti (1772)

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Das in Prosa geschriebene Drama Emilia Galotti gilt als eines der wichtigsten Bürgerlichen Trauerspiele. Lessing hat es nach den Vorgaben seiner Hamburgischen Dramaturgie geschrieben. Obwohl die Liebe das Zentralthema der Tragödie ist, gilt es in der älteren Forschung als hochpolitisches Stück. Es stellt den willkürlichen Herrschaftsstil des Adels der neuen aufgeklärten Moral des Bürgertums gegenüber. Etwas konkreter betrachtet, treffen hier alte feudale Vorstellungen von Liebe und Ehe auf den neuen empfindsamen Liebesdiskurs der Bürger und aufgeklärter Adeliger. Und diese Kombination ist hoch brisant.

Der italienische Prinz Hettore Gonzaga plant seine Eheschließung mit der Prinzessin von Massa und will seine Geliebte Orsina verlassen. Er begründet die Trennung mit seiner bevorstehenden Heirat, aber Orsina sieht ihre Stellung nicht durch die baldige Vermählung ihres Geliebten in Gefahr, sondern durch eine neue Geliebte. Liebe und Ehe gehören folglich für den Prinzen und seine Höflinge keineswegs zusammen. Die Ehe ist politisch motiviert und führt nicht zu einer intimen Lebensgemeinschaft. Intimität findet in der außerehelichen "Liebes"beziehung statt. Der Verdacht Orsinas, von einer neuen Mätresse verdrängt zu werden, ist nicht unbegründet, denn der Prinz hat sich in Emilia Galotti verliebt. Von seinem Kammerherrn Marinelli erfährt er, dass Emilia noch am selben Tag den Grafen Appiani heiraten will  - und zwar aus Liebe. Emilia und der Graf haben weder Politik noch Ökonomie im Sinne, wenn sie vor den Traualtar treten. Der Graf riskiert sogar ganz bewusst seine Stellung in der Gesellschaft, wenn er die Ständeschranken missachtet. Aber die beiden wollen den Hof verlassen und auf den Gütern des Grafen leben. Der Prinz ist schockiert und verzweifelt, denn ihm ist der neue Liebesdiskurs bekannt. Im Grunde weiß er, dass es unmöglich ist, als Prinz Liebe einzufordern. Sie muss ihm als Mensch gewährt werden.

Aber wenn Emilia verheiratet ist, was noch am selben Tag geschehen soll, dann ist die Gewährung der Liebesgunst nicht nur insofern unmöglich, weil die Braut mit ihrem zukünftigen Gemahl außer Landes gehen will, sondern auch deshalb, weil die empfindsame Liebe den Ehebruch nicht duldet. Zum Verzicht ist der Prinz jedoch trotz seiner Einsicht in diese Regeln nicht bereit; außerdem hat er in seinem Kammerherrn Marinelli einen schlechten Ratgeber, der ihm suggeriert, dass die Erfüllung seiner Liebeswünsche mit einiger List im Bereich des Möglichen liege. Dieser Ratgeber kennt die Gesetze der empfindsamen Liebe nicht und setzt - trotz der ablehnenden Haltung des Prinzen gegenüber dieser Möglichkeit - ganz auf die fürstliche Gewalt.

Zunächst versucht Marinelli den Grafen Appiani noch am selben Tage - vor der Trauung - als Gesandten nach Massa zu schicken, während gleichzeitig der Prinz Emilia seine Liebe erklärt. Aber weder Diener noch Herr haben Erfolg: Appiani lehnt die Reise ab, Emilia reagiert nicht auf die Liebeserklärung, denn sie weiß, dass den Prinzen eher Leidenschaften bewegen als wirkliche Neigung. Er begehrt sie als Geliebte auf Zeit, nicht als seine Frau. Doch Marinelli und der Prinz geben nicht auf: Emilia wird entführt, der Graf ermordet.
Emilia befindet sich nun auf Gonzagas Lustschloss. Ihre Eltern Odoardo und Claudia Galotti sowie die Gräfin Orsina treffen kurz darauf im Schloss ein. Die Gräfin drängt dem Vater einen Dolch auf, um sich am Prinzen zu rächen. Aber sein bürgerliches Ehrgefühl hindert ihn an einer solchen Tat. Als er beschließt, Emilia in ein Kloster zu schicken, verweigert der Prinz ihre Herausgabe. Emilia ist verzweifelt, bittet ihren Vater, ihr den Dolch zu überlassen, um sich selbst zu töten. Sie fürchtet ihre Unschuld zu verlieren, wenn sie in der Einflusssphäre des Prinzen verweilt. Die Unschuld ist zwar "über alle Gewalt erhaben", aber "nicht über alle Verführung. - Gewalt! Gewalt! wer kann der Gewalt nicht trotzen? Was Gewalt heißt, ist nichts: Verführung ist die wahre Gewalt. Ich habe Blut, mein Vater, so jugendliches, so warmes Blut als eine. Auch meine Sinne sind Sinne." (S. 77) Angesichts dieser Gefährdung überlässt Odoardo Galotti die tödliche Waffe zwar nicht seiner Tochter, aber er sticht selbst zu und ‚rettet’ sie. Der Prinz gibt Marinelli die Schuld, obwohl er weiß, dass es seine eigene Regelverletzung war, seine - an der alten höfischen Liebe orientierte - Leidenschaft, die seinen Blick auf die Welt verzerrte und das Unglück hervorrief.

Ursprünglich geht das Motiv des Dramas auf den antiken Historiker Livius zurück: Dort tötet der Römer Virginius seine junge, unschuldige Tochter Virginia, weil er sie vor den Nachstellungen des Decemvirn Appius Claudius' bewahren will. Der Mord löst einen Volksaufstand aus. Werden hier die Handlungen von Einzelpersonen in ihrer politischen Wirkung vorgestellt, so wurden die Protagonisten Lessings im Zuge der Rezeptionsgeschichte des Dramas in dem Sinne als politisch Handelnde adressiert, als sie für die "tyrannische Willkürherrschaft" des Adels, wie Goethe es ausdrückte, ständen. Neuere Lesweisen des Dramas akzentuieren stärker die konkurrierenden Liebes- und Ehesemantiken zur Zeit der Aufklärung, die hier exemplarisch zu unauflösbaren Missverständnissen in der Kommunikation führen. Das Problem sind die Klischees vom tugendhaften Bürger und vom wollüstigen Adeligen, die die Handelnden beherrschen und ihr Verhalten bestimmen.

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Quelle

  • Gotthold Ephraim Lessing: Emilia Galotti [1772], Stuttgart 1994.

Sekundärliteratur:

  • E. Reinhardt-Becker: Lessings „Emilia Galotti“ in der Perspektive kultureller und historischer Fremdheit, in: Christian Dawidowski / Dieter Wrobel (Hg.): Interkultureller Literaturunterricht, Schneider-Verlag 2006, S. 197-221.
  • G. Ter-Nedden: Lessings Trauerspiele. Der Ursprung des modernen Dramas aus dem Geist der Kritik. Stuttgart 1986.
  • E. Reinhardt-Becker / C. Kammler: Emilia Galotti – die verführte Unschuld? Die Inszenierungen von Andrea Breth und Michael Thalheimer im Deutschunterricht, als pdf-Datei auf: Emilia Galotti. Praxis Deutsch Theater, Seelze 2007. (zus. mit Clemens Kammler)