* 11.2.1900, Marburg
† 13.3.2002, Heidelberg
Philosoph
1960 veröffentlichte der Heidegger-Schüler Hans-Georg Gadamer sein Hauptwerk Wahrheit und Methode, den großangelegten Versuch einer "philosophischen Hermeneutik". Darin geht es ihm um "Wahrheit" statt "Methode" (verstanden als Verfahrensweise, die sachliche oder symbolische Zusammenhänge nach intersubjektiv kontrollierten Regeln, also nach dem Vorbild der mathematisch-naturwissenschaftlichen "Methode" zu analysieren sucht). Dieses Werk löste in der Folgezeit auch eine verstärkte hermeneutische Reflexion in der deutschen Literaturwissenschaft aus.
Hermeneutik ist für Gadamer mehr Geschehen als Verstehen. Sie ist die besondere Art und Weise, in der ein kulturell gewachsener Überlieferungs-, Traditions- und Normzusammenhang aufrechterhalten bzw. weiterentwickelt wird. Dabei akzentuiert Gadamer die Sprachlichkeit des hermeneutischen Geschehens, d.h.er betont die Vorgegebenheit eines Sprachsystems und die Teilhabe der Individuen daran. Durch das Lesen, Auslegen und Weitervermitteln von überlieferten Texten, vor allem auch durch ihre Neuinterpretation, schließen wir unsere Gegenwart immer aufs Neue an die soziokulturelle Tradition an.
Gadamer hebt die Bedeutung hervor, die der historische Ort des Verstehenden für dessen Verstehen besitzt. Diese Bedeutung erläutert er am Begriff des "Vorurteils". Er wird bei ihm nicht, wie in der Tradition der Aufklärung und auch noch bei Schleiermacher, negativ verstanden als Quelle des Mißverstehens. Das "Vor-Urteil" ist bei Gadamer die durch Lebensgeschichte und Bildungsgeschichte vorstrukturierte Verstehensfähigkeit des jeweiligen Subjekts, die es nun versuchsweise auf das neu zu Verstehende "entwerfen" kann und meist korrigieren wird. In diesem Sinn ist das Vorurteil für ihn nicht Störung, sondern geradezu produktive Bedingung des geschichtlichen Verstehens.
Produktiv und eine Bedingung fast allen hermeneutischen Geschehens ist für Gadamer daher auch der Zeitabstand (die hermeneutische Differenz) zwischen (gegenwärtigem) Leser und (überliefertem) Text, den ja noch Dilthey im Akt der Einfühlung überspringen wollte. Konkretisiert wird diese geschichtliche Grundstruktur des Verstehens von Gadamer in der Metapher des Horizonts. Damit meint er den "Gesichtskreis, der all das umfaßt und umschließt, was von einem Punkte aus sichtbar ist" (S. 286). Der jeweils gegenwärtige Horizont ist in der historischen und kulturellen Traditon von früheren Horizonten jedoch nicht grundsätzlich verschieden, denn er bildet sich gar nicht ohne die Vergangenheit. Tatsächlich ist er in steter Bildung begriffen, da wir alle unsere Vorurteile ständig erproben. Die hermeneutische Tätigkeit ist eine mehr oder weniger bewußte Konfrontation mit der Tradition, die im Vollzug des Verstehens eine "Verschmelzung" des gegenwärtigen mit dem vergangenen Horizont vollbringt.
Wenn nun nicht allein die einzelne hermeneutische Situation (also z.B. die Lektüre oder Auslegung eines überlieferten Textes) betrachtet wird, sondern auch die Tatsache, daß sie in aller Regel auf eine ganze Reihe von entsprechenden Situationen folgt und ihrerseits wiederum neue, nachfolgende hervorrufen kann, so eröffnet sich eine Dimension, die Gadamer Wirkungsgeschichte nennt. (An diese Überlegungen knüpft in den siebziger Jahren besonders die literaturwissenschaftliche Schule der Rezeptionsästhetik und -geschichte an.) Wirkungsgeschichtliches Bewußtsein hat die eigene Situation nicht naiv, sondern reflektiert an die Überlieferung anzuschließen. Es soll die Zugehörigkeit der Gegenwart zur Tradition artikulieren, aber nie vergessen, was sie von ihr trennt. Die Einschätzung Gadamers als eines eher konservativen oder eher vorwärtsweisenden Denkers hängt letzlich davon ab, wo der Akzent gesetzt wird: auf der Traditionsverbundenheit oder auf der Abgrenzung von der Tradition.
© DS und JV
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