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Der Vortrag auf dem ersten Germanistentag in Frankfurt wurde später in Jacob Grimms Kleinere Schriften aufgenommen (daraus die folgenden Zitate). Die Begriffe "genaue" und "ungenaue" Wissenschaften sind Eindeutschungen der (französischen) Termini "exakt" und "inexakt". Seine Thesen reagieren auf die steigende gesellschaftliche Bedeutung und Anerkennung der Naturwissenschaften, die er mit einer gewissen Sorge sieht, weil diese nur einen Teil des 'Menschseins' erfassen könnten. Auch wenn Konkurrenzdenken mitspielt (und die Methoden und Erkenntnisziele der Naturwissenschaften nie so begrenzt waren wie hier behauptet) so hat Grimm die Probleme einer Vorherrschaft von Naturwissenschaft und Technik doch deutlich gesehen. Anders als der philologische Positivismus, der sich durch methodische Angleichung an die Naturwissenschaften (Fakten, Kausalität!) behaupten wollte, steht Grimm zu den methodischen Besonderheiten der "ungenauen" (d.h. historischen und hermeneutischen) Wissenschaften (später wird man mit Wilhelm Dilthey von Geisteswissenschaften sprechen). Diese besonderen Methoden sind mit den besonderen Objekten und Erkenntniszielen notwendig gegeben und nicht veränderbar. Das impliziert auch die Rechtfertigung von Fehlern und Langsamkeit der Erkenntnis.

Die häufigen Bezüge auf das 'Deutsche', 'Vaterland' und 'Heimat' dürfen nicht als chauvinistische Parolen missverstanden werden: In Grimms historischer Situation war das Insistieren auf einem vereinigten deutschen 'Vaterland' angesichts der feudalistischen Kleinstaaterei liberal und fortschrittlich. Zweitens geht es Grimm eben speziell um die Wissenschaft von deutscher Sprache, Literatur und Geschichte. Einen entsprechenden Anspruch räumte er natürlich auch anderen Nationalphilologien ein.

zu den genauen [Wissenschaften] werden bekanntlich die gerechnet, welche alle sätze haarscharf beweisen: mathematik, chemie, physik, alle deren versuche ohne solche schärfe gar nicht fruchten. zu den ungenauen wissenschaften hingegen gehören gerade die, denen wir [gemeint: die Teilnehmer des Germanistentages] uns hingegeben haben und die sich in ihrer praxis so versteigen dürfen, dasz ihre fehler und schwächen möglicherweise lange zeit gelitten werden bis sie in stetem fortschritt aus fehlern und mängeln immer reiner hervorgehen: geschichte, sprachforschung, selbst poesie ist eine allerdings ungenaue wissenschaft. ebenso wenig anspruch auf volle genauigkeit hat das der geschichte anheim gefallene recht und ein urteil der jury ist kein rechenexempel, sondern nur schlichter menschenverstand, dem auch irrthum mit unterläuft.
[...]
Die genauen wissenschaften [...] lösen die einfachsten urstoffe auf und setzen sie neu zusammen. alle hebel und erfindungen, die das menschengeschlecht erstaunen, sind von ihnen allein ausgegangen, und weil ihre anwendungen schnell gemeingut werden, so haben sie für den groszen haufen den gröszten reiz. viel sanfter und zugleich viel träger ziehen die ungenauen wissenschaften nach sich [= verschaffen sich Anhänger], es gehört schon eine seltnere vorrichtung einzelner naturen dazu, um sie an die deutsche geschichte oder an die untersuchung deutscher sprache innig zu fesseln, während wir die hörsäle der chemiker und physiker wimmeln sehen von einer dem zeitgeist unbewust huldigenden jugend. und doch stehn die philologen [= Sprach- und Literaturwissenschaftler] und historiker an fülle der combination den gewandtesten naturforschern nicht eben nach; ich finde sogar, dasz sie den schwierigsten wagstücken mutvoll entgegengehen, dasz umgekehrt die excacte wissenschaft einer reihe von rätseln ausweicht, deren lösung noch gar nicht herangekommen ist. [...]
der chemische tiegel siedet unter jedem feuer und die neu entdeckte mit kaltem lateinischen namen getaufte pflanze wird auf gleicher klimatischer höhe überall erwartet; wir aber freuen uns eines verschollenen ausgegrabenen deutschen worts mehr als des fremden, weil wir es unserem land wieder aneignen können [...]. die genauen
wissenschaften reichen über die ganze erde und kommen auch den auswärtigen gelehrten zu gute, sie ergreifen aber nicht die herzen.[...]
unsere naturforscher zählen die blätter und staubfäden zahlloser kräuter, ordnen unendliche reihen aller geschöpfe; was ist aber erhebender und betrachtungswerther als das wunder der schöpfung, das über die ganze erde sich ausbreitende menschengeschlecht, das eine überreiche geschichte seiner entfaltung und seiner thaten aufzuweisen hat? darf die gliederung seiner gleichfalls in unendlichen zungen und mundarten gespaltenen rede nicht noch mit stärkerer gewalt an uns treten und unsere wissenschaft auffordern als die glänzendste entdeckung neuer arten von [...] bacillarien? das menschliche in sprache, dichtung, recht und geschichte steht uns näher zu herzen als tiere, pflanzen und elemente; mit denselben waffen siegt das nationale über das fremde.

©RB

Quelle

  • Jacob Grimm: Über den Werth der ungenauen Wissenschaften. In: J.G.: Kleinere Schriften. Bd. VII. Berlin 1884 (Nachdruck Hildesheim 1966), S. 563-566.