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Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik (zur Epik) (gehalten 1817-1829)

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Hegel spricht in seinen Vorlesungen über die Ästhetik nicht vom Schönen in der Natur, sondern vom Schönen in der Kunst. Dieses durch den Menschen gestaltete Schöne steht für ihn über dem Naturschönen, "weil aus dem Geist geboren". Dieser Argumentation folgend ist Kunst nicht nur Abbild / Mimesis von Natur, denn das würde bedeuten, daß die Kunst beim Natürlichen stehen bliebe und nicht zum Geistigen vordränge. Kunst geht vielmehr aus der absoluten Idee hervor, sie ist sinnliche Präsentation des absoluten Geistes als Ideal.

Diese Darstellung des Absoluten als Ideal muss wiederum als Idealziel der Kunst begriffen werden, das in den einzelnen Kunstepochen in der Menschheitsgeschichte mehr oder weniger verwirklicht wurde. Hegel unterteilt die "epochalen Formen der Kunst" in symbolische Kunst (Orient), klassische Kunst (Antike) und romantische Kunst (beginnend mit dem christlichen Mittelalter). Nur in der Antike sieht er die Funktion der Kunst vollkommen erfüllt. Die drei Epochen der Kunst "bestehen im Erstreben, Erreichen und Überschreiten des Ideals als der wahren Idee der Schönheit." Auch in ihrer sinnlichen Ausprägung sind sie unterschieden: Die symbolische Kunst materialisiert sich vornehmlich in der Architektur, die klassische Kunst vorwiegend in der Skulptur und die romantische Kunst in Malerei, Musik und Dichtung.

Im Falle der Dichtkunst sieht Hegel im antiken Epos die Darstellung des Absoluten vollkommen ausgeformt, denn im antiken Epos wird prinzipiell die gesamte gesellschaftliche Realität dargestellt. Der Held des Epos kann wie eine griechische Statue immer Ausdruck der absoluten Individualität und des allgemeinen Ideals sein:

Was nun unseren jetzigen Gegenstand, die epische Poesie, betrifft, so geht es damit ohngefähr wie mit der Skulptur. Die Darstellungsweise dieser Kunst verzweigt sich zwar zu allerlei Arten und Nebenarten und dehnt sich über viele Zeiten und Völker aus; in ihrer vollständigen Gestalt jedoch haben wir sie als das eigentliche Epos kennenlernen und die kunstmäßigste Wirklichkeit dieser Gattung bei den Griechen gefunden. Denn das Epos hat überhaupt mit der Plastik der Skulptur und deren Objektivität, im Sinne sowohl des substantiellen Gehalts als auch der Darstellung in Form realer Erscheinungen, die meiste innere Verwandtschaft, so daß wir es nicht als zufällig ansehen dürfen, daß auch die epische Poesie wie die Skulptur bei den Griechen gerade in dieser ursprünglichen, nicht übertroffenen Vollendung hervorgetreten ist.

Diese Verwandtschaft des Epos zur vollkommenen Darstellung des Absoluten der Skulptur ist möglich, obwohl das Epos exemplarisch auswählt. Das Ideal konkretisiert sich im Geschehen einer Handlung. Diese Handlung ist in aller Regel ein Konflikt mit nationalgeschichtlicher Dimension, z.B. ein Befreiungskrieg. Die Beschreibung dieses Krieges beinhaltet die Gründung eines Staatswesens und wird damit zum Gründungsmythos. Das Epos ist damit die Bibel des Volkes. Solche Epen entstehen an einem historischen Ort mittlerer Zeit, in der sich ein Volksgeist schon ausgebildet, aber noch nicht staatlich und gesellschaftlich in Institutionen manifestiert hat.

Für das moderne Europa wird diese 'Mittelzeit'für das 12. bis 16. Jahrhundert festgeschrieben. Sobald die bürgerliche Gesellschaft sich gefestigt hat, kann es kein Epos mehr geben:

Denn der ganze heutige Weltzustand hat eine Gestalt angenommen, welche in ihrer prosaischen Ordnung sich schnurstracks den Anforderungen entgegenstellt, welche für das echte Epos unerläßlich fanden, während die Umwälzungen, denen die wirklichen Verhältnisse der Staaten und Völker unterworfen gewesen sind, noch zu sehr als wirkliche Erlebnisse in der Erinnerung festhaften, um schon die epische Kunstform vertragen zu können.

In den Kunstformen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts – hier ist vornehmlich der Roman gemeint – fehlt die unmittelbare Einheit von Individuellem und Allgemeinem. Hegel schreibt über das Romanhafte:

Die Zufälligkeit des äußerlichen Daseins hat sich verwandelt in eine feste, sichere Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft und des Staates, so daß jetzt Polizei, Gerichte, das Heer, die Staatsregierung an die Stelle der chimärischen Zwecke treten, die der Ritter sich machte. Dadurch verändert sich auch die Ritterlichkeit der in neuen Romanen agierenden Helden. Sie stehen als Individuen mit ihren subjektiven Zwecken der Liebe, Ehre, Ehrsucht oder mit ihren Idealen der Weltverbesserung dieser bestehenden Ordnung und Prosa der Wirklichkeit gegenüber, die ihnen von allen Seiten Schwierigkeiten in den Weg legt. Da schrauben sich nun die subjektiven Wünsche und Forderungen in diesem Gegensatze ins Unermeßliche in die Höhe; denn jeder findet vor sich eine bezauberte, für ihn ganz ungehörige Welt, die er bekämpfen muß, weil sie sich gegen ihn sperrt und in ihrer spröden Festigkeit seinen Leidenschaften nicht nachgibt, sondern den Willen eines Vaters, einer Tante, bürgerliche Verhältnisse usf. als ein Hindernis vorschiebt. Besonders sind Jünglinge diese neuen Ritter, die sich durch den Weltlauf, der sich statt ihrer Ideale realisiert, durchschlagen müssen und es nun für ein Unglück halten, daß es überhaupt Familie, bürgerliche Gesellschaft, Staat, Gesetze, Berufsgeschäfte usf. gibt, weil diese substantiellen Lebensbeziehungen sich mit ihren Schranken grausam den Idealen und dem unendlichen Rechte des Herzens entgegensetzen. Nun gilt es, ein Loch in diese Dinge hineinzustoßen, die Welt zu verändern, zu verbessern, oder ihr zum Trotz sich wenigstens einen Himmel auf Erden herauszuschneiden: das Mädchen, wie es sein soll, sich zu suchen, es zu finden und es nun den schlimmen Verwandten oder sonstigen Mißverhältnissen abzugewinnen, abzuerobern und abzutrotzen. Diese Kämpfe sind in der modernen Welt nichts weiteres als die Lehrjahre, die Erziehung des Individuums an der vorhandenen Wirklichkeit, und erhalten dadurch ihren wahren Sinn. Denn das Ende solcher Lehrjahre besteht darin, daß sich das Subjekt die Hörner abläuft, mit seinem Wünschen und Meinen sich in die bestehenden Verhältnisse und die Vernünftigkeit derselben hineinbildet, in die Verkettung der Welt eintritt und in ihr sich einen angemessenen Standpunkt erwirbt. Mag einer sich auch noch soviel mit der Welt herumgezankt haben, umhergeschoben sein – zuletzt bekömmt er meistens doch sein Mädchen und irgendeine Stellung, heiratet und wird ein Philister, so gut wie die anderen auch: die Frau steht der Haushaltung vor, Kinder bleiben nicht aus, das angebetete Weib, das erst die Einzige, ein Engel war, nimmt sich ohngefähr ebenso aus wie alle anderen, das Amt gibt Arbeit und Verdrießlichkeiten, die Ehe Hauskreuz, und so ist der ganze Katzenjammer der übrigen da.

Dieses Zitat macht deutlich, warum Hegel konstatiert, daß die Kunst als Ausdruck des absoluten Geistes an ihr Ende gekommen ist. Hier geht es nur noch um eine individuelle Bildungsgeschichte, um den Kampf gegen die Gesellschaft, der mehr oder weniger harmonisch endet. Im Roman wird der Konflikt zwischen der Poesie des Herzens und der entgegenstehenden Prosa der Verhältnisse ausgetragen. Am Schluss steht die Versöhnung: Das Individuum akzeptiert die bestehenden Verhältnissen und wird zum Philister.

©rein

Quelle

  • Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen zur Ästhetik, hg. v. Friedrich Bassenge, Bd. 1, Frankfurt/M. o. J., S. 567 f.

Wichtige Schriften

  • Vorlesungen über die Ästhetik (gehalten 1817/18 bis 1828/29; herausgegeben 1835-1838)