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Kalendergeschichte

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Der Begriff Kalendergeschichte ist eine Sammelbezeichnung für kürzere Prosaerzählungen, die Elemente des Schwanks, der Anekdote, der Parabel und andere in sich vereinigen. In ihnen werden heitere oder merkwürdige Begebenheiten erzählt, die meist aus dem volkstümlich-alltäglichen Erfahrungsbereich stammen. Sie werden in einer an die mündliche Überlieferung angelehnten Sprache mit meist unterhaltsamer, besinnlicher oder belehrender Absicht erzählt. Vereinzelt schon im 17. Jahrhundert, vor allem aber ab dem 18. Jahrhundert ergänzen Kalendergeschichten den kalendarisch-informativen Teil des (besonders südwestdeutschen) Volkskalenders. Damit waren sie - neben der Bibel und dem Gesangbuch - meist das einzige Literaturmedium der bäuerlichen Bevölkerung.

Kennzeichnend für die Kalendergeschichte ist nicht die durchgehend strukturelle Einheitlichkeit, sondern eher eine individuelle, stilistisch-gehaltliche Homogenität. Vor allem Johann Peter Hebel hat mit seinen gesammelten Kalendergeschichten im Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes von 1811 diese epische Form geprägt und die ursprüngliche Verschiedenheit der Texte vergessen lassen. Die besondere Qualität der Hebelschen Geschichten wurde sowohl von Zeitgenossen wie Goethe, Tieck und Jean Paul als auch von späteren Lesern wie Ernst Bloch immer wieder herausgestellt. Ihre Originalität besteht in der paradoxen Verbindung von Volksnähe und aufklärerischer Urbanität, dialektnaher Sprache und erzähltechnischem Raffinement, von anarchischen Impulsen, Frömmigkeit und Einverständnis mit dem Bestehenden. Die sich an Hebel anschließende Tradition der Kalendergeschichte fiel im 19. Jahrhundert allerdings wieder in die ideologische Enge der sogenannten "Dorfgeschichte" (z.B. bei Berthold Auerbach oder Peter Rosegger) zurück. Im 20. Jahrhundert interessierten sich u.a. Franz Kafka und Walter Benjamin für diese epische Kurzform. Bertolt Brecht "zitierte" mit seinen um 1940 entstandenen Kalendergeschichten die Form und ihre zuweilen antiautoritäre Lehrhaftigkeit, um sie für sein Projekt einer gegenbürgerlichen sozialen Verhaltenslehre zu nutzen.

©JV und SR

Sekundärliteratur

  • J. Knopf: Die deutsche Kalendergeschichte. Ein Arbeitsbuch, Frankfurt/M. 1983.
  • L. Rohner: Kalendergeschichte und Kalender, Wiesbaden 1978.
  • H. Schlaffer (Hg.): Johann Peter Hebel: Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreundes. Ein Werk in seiner Zeit. Mit Bilddokumenten, Quellen, historischem Kommentar und Interpretationen, Tübingen 1980.