"Gegenwartsliteratur" ist ein relativ unscharfer Begriff, der zunächst einmal die jeweils aktuelle Literaturproduktion meint, wie sie sich in der Literaturkritik des Feuilletons spiegelt. Als Epoche der Literaturgeschichte schließt sich die deutschsprachige Gegenwartsliteratur an die - klarer konturierte - westdeutsche (bzw. österreichische und deutschschweizer) Nachkriegsliteratur einerseits, die Literatur der DDR andererseits an.
Seit den siebziger Jahren, als viele Schriftsteller in Reaktion auf die vorangegangene einsträngige "Politisierung" der Literatur einen neuen, individuellen Authentizitätsanspruch formulierten, begann sich das literarische Feld stärker als bisher aufzufächern. Die für die westdeutsche Nachkriegsliteratur prägenden Merkmale - wie die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und eine nonkonformistische Haltung gegenüber der bundesdeutschen Wirtschaftswundergesellschaft - waren nicht mehr allgemein konsensfähig. Insgesamt ließen sich verbindliche Leitvorstellungen ideologischer oder ästhetischer Art nicht mehr auf die Tagesordnung setzen. Treffend hat Jürgen Habermas in den achtziger Jahren von einer "Neuen Unübersichtlichkeit" gesprochen. Die Vielfalt der Themen und Schreibweisen ist seitdem kaum mehr auf einen Nenner zu bringen. Allenfalls lässt sich beobachten, dass die Entwicklung der elektronischen Medien sowohl in inhaltlicher als auch formaler Hinsicht ihren Niederschlag verstärkt in der Literatur (bis hin zu einer neuartigen Netzliteratur) zu fanden.
Erst mit dem Ende der deutschen Zweistaatlichkeit 1989/90 kam es zu einer breit angelegten Bestandsaufnahme und Versuchen einer neuen Funktionsbestimmung von Literatur. Zu fragen war, inwieweit die Literatur in der DDR durch ihre politische Indienstnahme ("Gesinnungsästhetik") an künstlerischem Potenzial eingebüßt hatte. Auf bundesdeutscher Seite wurden das Selbstverständnis der Nachkriegsautoren und der Rückzug in die Innerlichkeit nach 1968 als Gründe diskutiert, die zur Abkoppelung von internationalen Entwicklungen geführt hatten. Insbesondere der Anschluss an die Postmoderne (Umberto Eco, Italo Calvino, John Barth u.v.a.) sei verpasst worden. Tatsächlich ist für die deutschsprachige Gegenwartsliteratur ein "Exportproblem" zu konstatieren. Viele Texte leiden offensichtlich unter einem Mangel an internationaler Relevanz. Bernhard Schlinks besonders in den USA äußerst erfolgreicher Roman Der Vorleser von 1995 stellt eine der wenigen Ausnahmen dar (weil er thematisch die Erwartungen einer amerikanischen Leserschaft erfüllt).
Trotz der quantitativ beachtlichen ostdeutschen "Wendeliteratur" (v.a.in Autobiographie, Tagebuch, Essay und Roman) und des Booms, den das Genre des Berlin-Romans erlebte, stand die Gegenwartsliteratur der neunziger Jahre im Zeichen der Krise. "Langeweile" oder "Talentschwäche" wurden ihr vorgeworfen. Die großen Literaturdebatten entzünden sich bis in die jüngste Vergangenheit immer noch an maßgeblichen Autoren der Gruppe 47 (Günter Grass: Ein weites Feld, 1995 oder Martin Walser: Tod eines Kritikers, 2002). Die nachfolgende Generation der "78er" (Matthias Politycki) konnte sich nur sporadisch Gehör verschaffen. Dagegen feierten Bücher von jungen Autorinnen und Autoren, die um oder nach 1970 geboren sind, seit dem Ende der neunziger Jahre zumindest saisonale Achtungserfolge. Der Stern der "Pop-Literatur" (Christian Kracht: Faserland, 1995) oder des so genannten "Fräuleinwunders" (Judith Hermann: Sommerhaus, später, 1998) scheint jedoch schon wieder im Sinken begriffen. Denn trotz der unausgesetzten Produktion - meist auf einem vergleichsweise hohen handwerklichen Niveau - lässt sich nicht übersehen, dass den Texten oft die Grundierung mit jener Notwendigkeit mangelt, aus der dauerhafte Literatur erst entsteht.
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