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Literaturkritik

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Der gegenwärtige Literaturbetrieb ist ohne die Literaturkritik nicht mehr zu denken. Ihre Aufgabe kann man darin sehen, der Literatur über die private Lektüre hinaus eine Öffentlichkeit zu schaffen, die sie im lebendigen Gespräch hält. Verfolgt man freilich literarische Debatten - wie zuletzt die Auseinandersetzungen um Günter Grass´ Roman "Ein weites Feld" (1995) - drängt sich manchmal der Eindruck auf, sie sei das "Eigentliche" des literarischen Geschäfts, während die Werke nur "Futter" für die Kritiker liefern.

Literaturkritik wendet sich über Zeitungen und Zeitschriften, den Rundfunk, das Fernsehen und zunehmend auch das Internet an einen größeren Kreis literarisch Interessierter als etwa die Literaturwissenschaft. Der öffentlichen Wirksamkeit des Fernsehens zum Trotz sind die verschiedenen Printmedien immer noch ihr "Hauptschauplatz". In Abhängigkeit vom jeweiligen Medium und damit vom Zielpublikum und seinen besonderen Erwartungen ändert sich sowohl die Argumentationsweise des Kritikers wie auch der Umfang und analytische "Tiefgang" seiner Kritik. Das Spektrum kann dabei von einem mehrseitigen Aufsatz mit essayistischem Anspruch bis zur Kurz- oder auch "Waschzettel"- Rezension reichen, die eher einer Werbeanzeige ähnelt.

Je größer das Publikum, desto wichtiger wird der Kritiker. Seine Bedeutung bemißt sich natürlich in erster Linie an seinem Einfluß auf den Buchmarkt. Die unangefochtene Spitzenstellung nahm in dieser Hinsicht längere Zeit Marcel Reich-Ranicki (ehemals Literaturkritiker beziehungsweise leitender Redakteur bei "Die Zeit" und "Frankfurter Allgemeine Zeitung") mit der Fernsehsendung "Das literarische Quartett" im ZDF ein. Hier löst sich der Gegenstand des Interesses allerdings oft vom besprochenen Buch ab und verschiebt sich auf die Präsentation des Kritikers, der zum Medienstar avanciert. Sigrid Löffler, lange Zeit selbst mit ständigem Sitz im "Literarischen Quartett", hat diese Form der kulturellen Unterhaltung "Literatainment" genannt.

Was die sogenannte hohe, die "Sublimliteratur" anbelangt, so ist es innerhalb der Printmedien immer noch eine namentlich gezeichnete Rezension im "SPIEGEL", die einen relativ sicheren Verkaufserfolg in Aussicht stellt. Ausnahmen bestätigen auch diese Regel. Es folgen die Feuilletons der großen überregionalen Wochen- und Tageszeitungen, wie "Die Zeit", "Frankfurter Allgemeine Zeitung", "Süddeutsche Zeitung", "Die Welt" oder "Frankfurter Rundschau".

Betrachtet man die Vielzahl der literarischen Neuerscheinungen, die jährlich auf den Buchmessen in Frankfurt und Leipzig präsentiert werden, leuchtet ein, daß nur ein Bruchteil dieser Bücher tatsächlich besprochen werden kann. Dabei erweist sich die eigentliche Macht des Kritikers in der Möglichkeit zur Selektion. Er kann beeinflussen, welche Texte von einem breiteren Publikum überhaupt wahrgenommen werden, ja er legt fest, was auf dem literarischen Markt existiert und was nicht. Die Verbindung von Literaturkritik und Buchwerbung liegt dabei auf der Hand.

Seit je beschäftigt die Kritiker - und auch die Kritiker der Kritiker - die Frage nach den Maßstäben ihres Tuns. Verschiedene "Schulen" und gegensätzliche Meinungen lassen sich dabei beobachten. Kritiker aus der literaturgeschichtlichen Epoche der Aufklärung forderten etwa, ausgehend von einem "objektivierbaren" Wissen über Theorie und Geschichte literarischer Formen und Inhalte die Neuerscheinungen einzuschätzen. Ihre Antipoden aus dem Sturm und Drang hingegen meinten, die Urteile aus der "subjektiven" Anschauung beziehen und dem Genie des Dichters sowie der Originalität seines Werkes huldigen zu müssen.

Gotthold Eprahim Lessing, der eigentliche Begründer der neueren deutschsprachigen Literaturkritik, vertrat die Ansicht, die Kriterien der Kritik hätten sich aus dem Werk selbst zu ergeben: Der wahre Kunstrichter, so Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie (1767/69), folgert keine Regeln aus seinem Geschmacke, sondern hat seinen Geschmack nach den Regeln gebildet, welche die Natur der Sache erfordert. (S. 300) Heute ist dagegen die weite Verbreitung des rein subjektiven Geschmacksurteils zu beobachten. Viele Kritiker, die sich als Agenten des Publikumsgeschmacks verstehen (oder sich zumindest als solche ausgeben), schreiben eher, um sich selbst Profil zu geben, als um dem literarischen Text gerecht zu werden. Daß die Frage nach Bewertungskriterien trotzdem nicht erledigt ist, zeigt beispielsweise die Diskussion, die Autoren mit Kritikern während der Frankfurter Buchmesse 2000 vor allem auf der Internetseite des Rezensionsdienstes "Perlentaucher" (www.perlentaucher.de) führten.

Sicherlich hat sich in den letzten zwanzig Jahren ein gesellschaftlicher Wertewandel vollzogen, von dem Literaturkritik nicht unbeeinflußt bleiben konnte. Der Publikums- (und somit auch der Kritiker-) Geschmack hat sich stark ausdifferenziert; es werden immer mehr Bücher gedruckt, der literarische Markt expandiert und wird internationaler. Die Schwierigkeit der Bewertung hat freilich ursächlich mit der pluralen Verfaßtheit der gegenwärtigen Gesellschaft zu tun: In ihr lassen sich verbindliche ästhetische oder ideologische Vorgaben nicht mehr umstandslos auf die Tagesordnung setzen.

© SR

Quelle

  • Lessing, Gotthold Eprahim, Hamburgische Dramaturgie (19.Stück), in: ders., Auswahl in drei Bänden. Zweiter Band, Leipzig 1952.

Sekundärliteratur

  • W. Albrecht: Literaturkritik, Stuttgart u.a. 2001.
  • W. Barner (Hg.): Literaturkritik - Anspruch und Wirklichkeit. DFG-Symposium 1989, Stuttgart 1990.
  • F. Schirrmacher: Literaturkritik, in: H. Brackert / J. Stückrat (Hg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs, Reinbek 1992.