Startseite Index

Jan Assmann Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen (1992)

Achtung, öffnet in einem neuen Fenster. PDFDruckenE-Mail

Vergangenheit ist nichts "an sich" Existierendes, kein in sich geschlossenes Ganzes und auf alle Zeiten Unveränderliches, das es mit "objektiven" Methoden frei zu legen gilt, wie die Positivsten des 19. Jahrhunderts noch glaubten. Sie ist eine Konstruktion späterer Generationen, die sich "ihre" je eigene Vergangenheit schaffen: darüber sind sich die Historiker heute einig. Damit tritt neben die Frage nach dem Was der Erinnerung die Frage nach dem Wie. Nicht nur das jeweilige Bild der Vergangenheit ist deshalb für den nachgeborenen wie für den zeitgenössischen Forscher interessant, sondern auch die Medien und Institutionen, innerhalb deren dieses Bild konstruiert wird. Seit den neunziger Jahren gibt es in den Kulturwissenschaften deshalb eine breite Diskussion um das Gedächtnis einer Gesellschaft. Im Vordergrund steht dabei der Blick auf die Funktionsweisen der kollektiven Erinnerungsarbeit, denn die sozialen Bedingungen des Gedächtnisses bestimmen den Rahmen möglicher individueller Erinnerung. Ein führender Vertreter solcher Gedächtnistheorien ist der Heidelberger Ägyptologe Jan Assmann, der mit seinem Buch Das kulturelle Gedächtnis 1992 die erste wichtige Monographie zu dem Thema vorgelegt hat.

Jan Assmann interessiert sich dabei dafür, wie sich eine Kultur formiert, wie sich also Individuen zu einer solchen Großgruppe vereinigen. Verkürzt gesagt geschieht dies durch die Bildung sogenannter konnektiver (also: verbindender) Strukturen in zweifacher Richtung: Auf sozialer Ebene durch das Zusammengehörigkeitsgefühl einer Gruppe von Zeitgenossen untereinander, in historischer Dimension durch das Verbundenheitsgefühl mit früheren Generationen, die man als "Vorfahren" deklariert. Die Einheitlichkeit einer Kultur wird zunächst durch Formen ritueller Kohärenz erhalten, d.h. die Angehörigen dieser Kultur wiederholen Riten und Gebräuche ihrer Vorgänger in ihren (mündlich) überlieferten Formen. Das Gedächtnis dieser Kultur reicht dabei nur drei bis vier Generationen weit, ihr Erinnerungshorizont wandert mit den Generationen mit. Assmann bezeichnet diese Form der Erinnerung als kommunikatives Gedächtnis.

In dem Maße wie eine solche Kultur reflexiv, d.h. das Zusammengehörigkeitsgefühl bewußt und fraglich wird - etwa in der Auseinandersetzung mit anderen Kulturen -, entsteht der Bedarf nach stabileren Formen der Tradierung des kulturellen Wissens. In aller Regel erfolgt dies durch die Ausbildung der Schrift als neuem Medium. Aus ritueller wird textuelle Kohärenz, das Vergangene wird nicht bloß wiederholt, sondern vergegenwärtigt. Es entwickelt sich das Bewußtsein einer zeitlich fixierbaren Vergangenheit und eines wachsenden Abstands zu den diese spezifische Kulturgemeinschaft begründenden Ereignissen: ein Geschichtsbewusstsein, wie wir es heute als selbstverständlich ansehen. Das Mittel dazu ist eine rigide Auswahl und Tradierung der als fundierend angesehenen Texte: Ein Kanon grundlegender und unveränderbarer Texte wird von einer neu entstehenden Schicht von Schriftgelehrten (in frühen Phasen zumeist Priester und Beamte) verwaltet, aufbewahrt, kopiert und kommentiert. Diese neue kulturelle Formation - die nunmehr als kulturelles Gedächtnis bezeichnet wird - umfasst damit drei Aspekte: zunächst das reine Faktum der Erinnerung, also den Umstand, daß es überhaupt einen Bezug zur Vergangenheit gibt; sodann die Entwicklung von kultureller Identität bzw. politischer Imagination, d.h. eines Zusammengehörigkeitsgefühls der Individuen; und schließlich die kulturelle Kontinuierung bzw. Traditionsbildung, also die institutionalisierte Auswahl und Interpretation des zu bewahrenden Materials.

Dies ist die stark vereinfachte Darstellung eines hoch komplexen Prozesses, der weder stets gleichmäßig noch bruchlos verlaufen sein wird. Assmann selbst zeigt im zweiten Teil seines Buches anhand von Beispielen aus den frühen Hochkulturen in Ägypten, Israel und Griechenland, wie unterschiedlich solche Prozesse kultureller Formation ablaufen konnten.

© JK

Quelle

  • Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 4. Auf., München 2002.