Literaturunterricht im heutigen Verständnis, der sich analysierend bzw. interpretierend mit belletristischen Autoren und Werken der deutsche Sprache beschäftigt, existiert erst seit der Ablösung der klassizistischen Rhetorik durch eine literaturgeschichtliche Orientierung. Diese fand in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts statt und war mit der Herausbildung eines nationalliterarischen Kanons verbunden. Rhetorische Erziehung bedeutete die Ausbildung von Schreibern und Rednern am Muster vorbildlicher Texte aus dem Lateinischen und Griechischen, die seit Beginn des 19. Jahrhunderts durch deutsche Literatur ergänzt wurden.
Wichtige Etappen auf dem Weg zum "modernen" Literaturunterricht heutiger Prägung sind die von Wilhelm von Humboldt initiierte Abiturordnung von 1812, in der das Fach Deutsch erstmals als Prüfungsfach vorgesehen ist und Robert Heinrich Hieckes Schrift "Der deutsche Unterricht auf deutschen Gymnasien" (1842), in der der Gedanke einer allseitigen literarischen Bildung zusammenhängend entwickelt wurde. Hiecke plädiert zum einen für eine Gleichberechtigung der deutschen gegenüber der lateinischen und griechischen Literatur, zum anderen für eine konsequente Interpretationsschulung, die sowohl die Entwicklung analytischer wie auch "produktiver" methodischer Fähigkeiten mit einschließt. Gegenüber der von ihm favorisierten rationalen Textarbeit setzte sich nach 1848 biedermeierliche Gefühlsorientierung durch - eine Tendenz, für die Namen wie Rudolf von Raumer und Philipp Wackernagel stehen und die nach 1871 zunehmend eine nationalistische Komponente erhielt. Besonders die Literatur der Weimarer Klassik und der Romantik wurde in dieser Hinsicht instrumentalisiert: So gab Wilhelm II. auf der Berliner Schulkonferenz von 1890 die Devise aus, das Gymnasium solle "nicht junge Griechen und Römer" erziehen, sondern "nationale junge Deutsche". Umgesetzt wurde diese Forderung durch die präfaschistische "Deutschkunde-Bewegung", die in der 1887 von Otto Lyon gegründeten "Zeitschrift für den deutschen Unterricht" (ab 1920: "Zeitschrift für Deutschkunde") ihr zentrales Publikationsorgan hatte. Deren antirationalistische, antimoderne Volkstumsideologie blieb in der Zeit der Weimarer Republik nicht unwidersprochen. Walter Schönbrunn forderte 1929 eine stärkere Zuwendung des Unterrichts zur Literatur der Moderne ein. Doch mit dessen Transformation in ein Erziehungsinstrument der NS-Diktatur wurde solchen Modernisierungsbestrebungen ein vorläufiges Ende bereitet. Stattdessen setzte man die vollständige Funktionalisierung der deutschen Literatur für völkisch nationale Zwecke, die "Bereinigung" des Kanons nach Gesichtpunkten der Rassenideologie durch.
Knüpfte der Deutschunterricht in Westdeutschland nach 1945 zunächst mangels alternativer Konzepte an das deutschkundliche Unterrichtsschema an und blieben die literaturdidaktischen Leitbilder der damaligen Zeit restaurativen Vorstellungen vom "ritterlichen Menschen" (R. Ulshöfer) verhaftet, so fand dies in der SBZ seine Entsprechung in Idealbildern sozialistischer Kämpfer. Im Westen hatte die vom französischen Germanisten Robert Minder angeregte und eine Phase "versäumter Lektionen" beendende Lesebuchdiskussion der sechziger Jahre wesentlichen Anteil an einer Neuorientierung des Literaturunterrichts, der sich nun endlich der Literatur der Moderne und unmittelbaren Gegenwart zu öffnen begann. Die im Zuge einer nach 1968 stattfindenden grundlegenden Kritik am bisherigen Deutschunterricht in der BRD entwickelten Ansätze einer marxistisch orientierten "Emanzipationsdidaktik" (W. Hegele) blieben ebenso Episode wie die an "sozialistischer Moral" ausgerichteten DDR-Lehrpläne. Entscheidendere Bedeutung für den gegenwärtigen Literaturunterricht hatte die "rezeptionstheoretische Wende" (E. Paefgen) der siebziger und achtziger Jahre, in deren Folge die Schüler als Leser ins Zentrum didaktischer Überlegungen rückten und sowohl die literarische Schreibdidaktik als auch kreativitätsfördernde Konzepte sowie der "handlungs- und produktionsorientierte Literaturunterricht" entstanden. Auch das verstärkte Interesse an einer empirischen Erforschung des Unterrichtsgeschehens, an der literarischen Sozialisation und den literarisch-medialen Kompetenzen der Schüler resultiert aus dieser Neuorientierung.
© CK
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