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Der Brockhaus verweist in seinem Eintrag zum Stichwort 'Geisteswissenschaften' darauf, daß darunter im deutschsprachigen Raum die Wissenschaften zusammengefaßt sind, die die Ordnungen des Lebens in Staat, Gesellschaft, Recht, Sitte, Erziehung Wirtschaft, Technik und die Deutungen der Welt in Sprache, Mythos, Religion, Kunst, Philosophie und Wissenschaften zum Gegenstand haben. Die Engländer sprechen von 'Humanities' oder auch 'Social Sciences', während im französischsprachigen Raum 'Lettres' oder die 'Sciences humaines' darunter verstanden werden. Obwohl der Begriff bereits seit Ende des 18. Jahrhunderts bekannt ist, kommt es erst ab etwa Mitte / Ende des 19. Jahrhunderts zu einer weiteren Verbreitung.

Insbesondere im Zusammenhang mit der Auflösung der Hegel'schen Philosophie erfahren die Geisteswissenschaften durch den Philosophen Wilhelm Dilthey ein eigenes Profil und eine eigene Methode. Im Rückgriff auf das Hegelsche System der Geistphilosophie konzipiert Dilthey eine philosophische Lehre, der es um nicht viel weniger geht als darum, die 'geistige Welt' systematisch zu erfassen. In einer Vielzahl von Monographien und Aufsätzen, beginnend mit der Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883) über die Rede über die Entstehung der Hermeneutik (1900) bis zum postum publizierten Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910), sucht Dilthey die Geisteswissenschaften als "Erfahrungswissenschaft der geistigen Erscheinungen" und als "Wissenschaft der geistigen Welt" zu verstehen. Kernbegriff seines hermeneutischen Verfahrens ist dabei das 'Verstehen' geistiger Zusammenhänge im Unterschied zu den Naturwissenschaften, die Dilthey - im übrigen ganz ähnlich wie seine an Kant orientierten Zeitgenossen Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert - über den Begriff des Erklärens fixiert. Während der Verstehensprozeß ein - bis zuletzt - psychischer Akt des Sich-Hineinversetzens, Nachfühlens und Nachbildens (eines Wegs von außen nach innen sozusagen) meint und damit - auf unaufhebbare Weise - subjektiv bleibt, sind die Naturwissenschaften in dem Sinne vermeintlich objektiv, daß sie (mit Kant) Natur als ein Dasein unter Gesetzen (mithin also den Weg wieder von innen nach außen) beschreiben. Eine besondere Bedeutung kommt noch im System dieser Philosophie der Kunst und Literatur zu, insofern diese als Spitzenleistungen des menschlichen Geistes - als dessen Höchstform gleichsam - den jeweiligen Index der Menschheitsentwicklung indizieren; in den Worten des ungarischen Philosophen und Literarhistorikers Georg Lukács, der in seiner Jugendzeit maßgeblich von Wilhelm Dilthey beeinflußt gewesen ist: Kunst und Literatur repräsentieren das "Gedächtnis der Menschheit".

Im Anschluß an Dilthey hat sich das Konzept der Geisteswissenschaften samt ihrer hermeneutischen Methodik (mit eben dem Kernbegriff des Verstehens) in den Kunst-, Musik- und Literaturwissenschaften, aber auch in der Soziologie wie auch in der Pädagogik durchgesetzt und spielt - mehr oder minder ungebrochen - bis in die 1950er Jahre des 20. Jahrhunderts methodisch die wichtigste Rolle, ja, beeinflußt sogar nachhaltig das marxistische Denken, das freilich eine andere Nomenklatur verwendet und anstelle des Begriffs der Geisteswissenschaften den der Sozial- bzw. Gesellschaftswissenschaften rückt.

Sekundärliteratur

  • Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte [1883], in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. I., 6. Aufl., Stuttgart 1966.
  • Heinrich Rickert: Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logische Einleitung in die historischen Wissenschaften, Freiburg u.a. 1896.
  • Manfred Riedel: Verstehen oder Erklären? Zur Theorie und Geschichte der hermeneutischen Wissenschaften, Stuttgart 1978.
  • Joachim Ritter: Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft, Münster 1961.