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* 26.04.1841, Schönborn / Niederösterreich
† 06.08.1886, Berlin

Germanist

Obwohl sich Wilhelm Scherer als Literaturhistoriker ähnlich wie seine Kollegen Gervinus und Vilmar dem Nationalen – hier wohlgemerkt dem preußisch-nationalen – verschrieben hat, kennt ihn die Geschichte der Germanistik aufgrund einer anderen charakteristischen Eigenschaft seiner Studien: Er gilt als der führende und einflußreichste Positivist der frühen deutschen Literaturwissenschaft. Ihn interessiert vornehmlich das "Warum" eines literarischen Textes, "die Ursachen dessen zu ergründen, was geschieht". Warum begegnet uns Literatur in der vorhandenen Form und in keiner anderen? Warum hat Goethe den "Faust" so geschrieben wie wir ihn kennen und nicht anders? Scherer bedient sich nun vornehmlich des Positiven, d.h. des Tatsächlichen, um diese Fragen zu beantworten. Er untersucht die Zeitumstände, die Traditionen, die Biographie des Autors, aber auch seine Psyche – und geht damit schon wieder einen Schritt über den Positivismus hinaus. In einer Rezension zur Literaturgeschichte Hermann Hettners schreibt er: "Die wahre Methode litterarhistorischer Forschung geht von den überlieferten Schicksalen und von der schärfsten Analyse des geistigen Inhaltes der Individuen aus; sucht aus jenen die natürlichen Anlagen und äußerlichen Lebensbedingungen, aus dieser die treibenden Einflüsse am Einzelnen zu erspähen; steigt durch die Zusammenfassung des Verwandten, das sich bietet, zu einem realen Allgemeinen auf, und stellt dieses als bewegende Kraft hin, deren Entstehung aus einer Summe individueller Leistungen ein weiteres Object der Forschung, ein vorausgehendes Moment der Darstellung bildet."

Endpunkt von Scherers Literaturgeschichtsbetrachtung "ist ein System der nationalen Ethik". Dies wird vor allem in seiner populären Geschichte der deutschen Literatur (Berlin 1880-1883) deutlich. Die Literaturgeschichte soll nicht das Ziel einer Nation formulieren, sondern vielmehr einen ethischen Verhaltenskodex begründen, an dem sich die Nation orientiert.

©rein

Quelle

  • Österreichische Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und öffentliches Leben. (1865) H.5.

Wichtige Schriften

  • Über den Ursprung der deutschen Literatur (1864)
  • Geschichte der deutschen Sprache (1868)
  • Geschichte der deutschen Literatur (1880-1883)
  • Poetik (1888)

Sekundärliteratur

  • J. Fohrmann: Das Projekt der deutschen Literaturgeschichte, Stuttgart 1989.
  • P. Salm: Drei Richtungen der Literaturwissenschaft. Scherer – Walzel – Staiger, Tübingen 1970.
  • J. Sternsdorff: Wissenschaftskonstitution und Reichsgründung. Die Entwicklung der Germansitik bei Wilhelm Scherer, Frankfurt/M. 1979.