Pierre Bourdieu

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* 1.8. 1930, Denguin

Kultur- und Literatursoziologe

Der Franzose Pierre Bourdieu, Vertreter einer der derzeitig wichtigsten Positionen in der Kultur- und Literatursoziologie, tritt zunächst in den sechziger Jahren durch ethnologische Analysen der algerischen Gesellschaft in Erscheinung. Dort entwickelt er die ersten Elemente seiner Kulturtheorie, so den Begriff des symbolischen Kapitals, das er als relativ unabhängig von ökonomischem Kapital begreift. Bourdieu schließt also an den Marxschen Kapitalbegriff an und erweitert ihn. Die Zuordnung des einzelnen zu einer sozialen Klasse und die Beurteilung seines sozialen Einflusses funktioniert in der modernen Gesellschaft also nicht nur über die Verteilung des ökonomischen Kapitals (Geld, Produktionsmittel oder Grundbesitz), sondern auch über die des sozialen (Verwandtschaft, Beziehungen), kulturellen (Bildung, Titel, Sprachkompetenz) und symbolischen Kapitals (z. B. Kleidung, Körpersprache, Benehmen). Das Individuum kämpft darum, diese Kapitalien zu erwerben und zu akkumulieren. Das symbolische Kapital übernimmt dann die Rolle, die anderen Kapitalien sinnlich wahrnehmbar zu machen.

Dieser Kampf um die Kapitalien bestimmt die Positionierung des einzelnen in den verschiedenen gesellschaftlichen Feldern. Unter diesen Feldern versteht Bourdieu die unterschiedlichen Teilbereiche der Gesellschaft wie Wirtschaft, Politik, Bildung oder Religion. Diese Felder sind zwar unabhängig voneinander, aber sie sind im weitesten Sinne strukturhomolog. Überall geht es um die Anhäufung von Kapital, geht es darum, Benennungsmacht zu erlangen. Und wer in dem einen Feld "viel zu sagen hat", kann davon ausgehen, auch in einem anderen Feld nicht ohne Einfluß zu sein.

Manifestieren sich in den gesellschaftlichen Feldern die objektiven Bedingungen ihrer Zeit in Form von Institutionen, so ist die gesellschaftliche Wirklichkeit aber auch von subjektiven Faktoren abhängig. Diese zeigen sich im Habitus der Individuen. Der Habitus ist ein in klassenabhängiger Sozialisation erworbenes Wahrnehmungs-, Denk- und Verhaltensmuster des einzelnen, das meist unbewußt wirkt und sich nur schwer abschütteln läßt. Es bestimmt z.B. darüber, ob der Besuch eines Theaterstücks als Quälerei oder verfeinerter Kunstgenuß erlebt wird. Dieser Habitus drückt sich dann im Lebensstil aus, der als Zeichensystem begriffen und folglich gelesen werden kann.

Schon in den späten sechziger Jahren überträgt Bourdieu diese Vorstellungen auch auf Kunst und Literatur. Er prägt den Begriff des literarischen Feldes. Die Gesetze und Regeln in diesem literarischen oder auch künstlerischen Feld stehen im Gegensatz zu denen im ökonomischen Feld. "Man muß sich [...] der Umkehrung bewußt sein, die sich zwischen der Welt der Kunst und der Welt der Geschäfte ergibt [...]. Das grundlegende Gesetz dieses paradoxen Spiels [der Kunst] besteht gerade darin, an Interessenlosigkeit, Uneigennützigkeit interessiert zu sein: Die Liebe zur Kunst ist Liebe zur Leidenschaft". (S. 187) Und eine Leidenschaft hat immer etwas Unvernünftiges, Unökonomisches; sie denkt nicht nach, sondern läßt sich von den Ereignissen mitreißen, ohne die Konsequenzen einzukalkulieren. Neben diese Analyse des Kunstfeldes hat Bourdieu u.a. in seiner Studie zu Gustave Flauberts Erziehung des Herzens auch die konkrete soziologische Interpretation von literarischen Texten gestellt. Er deutet den Roman als ein 'Spiel', in dem zu Beginn die Figuren mit bestimmten Kapitalien ausgestattet werden, um anschließend vorzuführen, was sie im weiteren Verlauf des sozialen Prozesses daraus machen, wohin sie kommen, ob sie Macht erlangen oder nicht. Der Text ermögliche die Analyse verschiedener sozialer Habitusformen seiner Zeit und den damaligen Umgang mit ihnen sowie die Instrumentalisierung ökonomischen, sozialen, kulturellen und symbolischen Kapitals. Der Text wird also zu einem Zeichensystem, an dem stellvertretend der Habitus verschiedener sozialer Klassen ablesbar ist, wie auch die Strukturen des Handelns im Zeichen des 'regierenden Kapitals' deutlich werden. "Die soziologische Lektüre bricht den Charme [des Romans] durch die brutale Entschleierung der Struktur, die der literarische Text nur aufdeckte, indem er sie verbarg." (S. 245) Und auch einen Blick auf Flaubert selbst erhascht Bourdieu durch seine Analyse des Romans, wenn er die Hauptperson Frédéric als einen 'Stellvertreter' Flauberts interpretiert. Hier offenbare sich die wirkliche Stellung des Schriftstellers im sozialen Raum.

©rein

Quelle

Wichtige Schriften

Sekundärliteratur