In einem Brief an Friedrich Nicolai im November 1756 schreibt Gotthold Ephraim Lessing über die Wirkungen von Tragödie und Komödie:
Wenn es also wahr ist, daß die ganze Kunst des tragischen Dichtens auf die sichere Erregung und Dauer des einigen Mitleidens geht, so sage ich nunmehr, die Fähigkeit der Tragödie ist diese: sie soll unsere Fähigkeit, Mitleid zu fühlen, erweitern. Sie soll uns nicht blos lehren, gegen diesen oder jenen Unglücklichen Mitleid zu fühlen, sondern sie soll uns so weit fühlbar machen, daß uns der Unglückliche zu allen Zeiten, und unter allen Gestalten, rühren und für sich einnehmen muß. Und nun berufe ich mich auf einen Satz, den Ihnen Herr Moses vorläufig demonstriren mag, wenn Sie, Ihrem eignen Gefühl zum Trotz, daran zweifeln wollen. Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftlichen Tugenden, zu allen Arten der Großmuth der aufgelegteste. Wer uns also mitleidig macht, macht uns besser und tugendhafter, und das Trauerspiel, das jenes thut, thut auch dieses, oder – es thut jenes, um dieses thun zu können. Bitten Sie es dem Aristoteles ab, oder widerlegen Sie mich.
Auf gleiche Weise verfahre ich mit der Komödie. Sie soll uns zur Fertigkeit verhelfen, alle Arten des Lächerlichen leicht wahrzunehmen. Wer diese Fertigkeit besitzt, wird in seinem Betragen alle Arten des Lächerlichen zu vermeiden suchen, und eben dadurch der wohlerzogenste und gesittetste Mensch werden. Und so ist auch die Nützlichkeit der Komödie gerettet. (S. 55)
Für den Aufklärer Lessing ist die zentrale Funktion von Literatur die Vermittlung von moralischen Grundsätzen. So wundert es kaum, daß er die Fähigkeit des Mitleidens – also die Wirkung der Tragödie - , und die Fähigkeit, das Lächerliche zu erkennen – die Wirkung der Komödie - zu den wichtigsten bürgerlichen Tugenden erklärt, um sowohl die Tragödie als auch die Komödie moralisch zu rechtfertigen. Umgekehrt fordert er romantische Formen, die eben jene Wirkungen am besten erzielen.
©rein
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