Startseite Index

Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96)

Achtung, öffnet in einem neuen Fenster. PDFDruckenE-Mail

Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre gilt als der Prototyp des deutschen Bildungsromans. Er geht auf das zwischen 1777 und 1786 entstandene Fragment Wilhelm Meisters theatralische Sendung zurück und wird mehr als zwanzig Jahre später fortgeführt durch den Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre, der die Geschichte des Protagonisten weitererzählt, aber die Form eines linearen und sukzessiven Erzählens in Richtung auf ein offenes, 'modernes' Romankonzept auflöst.

Die in acht Bücher unterteilten Lehrjahre verfolgen den Lebensweg des Kaufmannssohnes Wilhelm Meister, der aus zugleich wohlhabenden und engen Verhältnissen seines Elternhauses ausbricht, um in der Welt des Theaters eine freiere Entfaltungsmöglichkeit zu suchen. Wilhelm, der sich schon als Kind für das Puppenspiel begeistert, lernt die Schauspielerin Mariane kennen und träumt davon, der "Schöpfer eines künftigen Nationaltheaters" (S. 35) zu werden. Als die Beziehung zu Mariane scheitert, weil er sie (fälschlich) für untreu hält, erkrankt Wilhelm schwer und gerät in eine tiefe Krise. Jahre später widmet er sich wieder ganz den kaufmännischen Geschäften und verbrennt seine Dichtungen. Auf einer Dienstreise trifft er die schillernden Mitglieder einer versprengten Theatertruppe, die kokette Philine, Laertes und das Ehepaar Melina, die er finanziell unterstützt, so daß sie sich wieder etablieren können. Zu der neu gegründeten Truppe kommen das androgyne, geheimnisvolle Mädchen Mignon und ein alter, in sich gekehrter Harfenspieler. Für ein Gastspiel auf einem gräflichen Schloß schließt sich Wilhelm der Truppe als Theaterdichter, Dramaturg und Regisseur an. Er verliebt sich in die Gräfin und wird durch Jarno, einen Günstling des Prinzen, auf das Werk Shakespeares hingewiesen, dessen Ausdruckskraft ihn unmittelbar anspricht. Die Truppe wählt Wilhelm zum Direktor und reist zum berühmten Prinzipal Serlo und seiner schauspielerisch herausragenden Schwester Aurelie. Auf dem Weg dorthin wird Wilhelm von Räubern überfallen, ein Chirurg und eine "schönen Amazone", die er (zunächst vergeblich) wiederzufinden versucht, retten den Verwundeten. Als sich Geschäftsbesuche nicht länger aufschieben lassen, wachsen in Wilhelm Zweifel an seiner Bestimmung, er fühlt sich am "Scheidewege" (S. 286). Aber die Nachricht vom Tod des Vaters, die Wilhelm definitiv unabhängig macht, und ein Brief seines Schwagers Werner, der ihm die angeblichen Freuden eines gewinnorientierten bürgerlichen Daseins ausmalt, lassen die Erkenntnis reifen, daß es schon immer sein Ziel gewesen sei "mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden" (S. 300): Als Bürger könne er dies nur auf dem Theater. In Serlos Theater inszeniert Wilhelm nach langen Diskussionen Hamlet: Die Aufführung – Wilhelm übernimmt die Hauptrolle, spielt dabei allerdings eher sich selbst – wird zum Höhepunkt seiner Theaterkarriere – und zum Wendepunkt seines Lebens: Ein Brand verwüstet das Theater, die Truppe löst sich auf, Aurelie stirbt und bittet Wilhelm, ihren untreuen Liebhaber Lothario aufzusuchen und ihm einen letzten Brief zu überreichen. Im folgenden 6. Buch fügt Goethe Die Bekenntnisse einer schönen Seele ein, die von pietistischer Innenschau geprägte Bildungsgeschichte einer Adeligen, die Wilhelm selbst auch liest: damit wird zum zweiten Teil der Lehrjahre übergeleitet. Der aufgeschlossene Baron Lothario, den er in Gesellschaft Jarnos und eines Abbés antrifft, ermuntert ihn, das Theater aufzugeben zugunsten eines tätigen Dienstes für die Gemeinschaft. Lothario führt ihn in die aufgeklärte, den zeitgenössischen Freimaurerbünden nachempfundene "Turmgesellschaft", die bisher schon, verdeckt, sein Leben gelenkt hat. Ein "Lehrbief" bestätigt ihm, daß seine Lehrjahre nun vorüber seien. Wilhelm bemüht sich um Therese, die ehemalige Geliebte Lotharios, bis er in dessen Schwester Natalie seine "schöne Amazone" wiedererkennt. Den Knaben Felix akzeptiert Wilhelm als Sproß seines Verhältnisses zu Mariane und fühlt, daß seine eigene Bildung nun erst anfange. Die oft undurchsichtigen Einflußnahmen der Turmgesellschaft stürzen Wilhelm immer wieder in Verwirrung und Zweifel, so daß er sogar seine Abreise plant, bis ihm endlich Natalie versprochen wird. Die märchenhaften Gestalten Mignon und der Harfner passen in die von aufklärerischem Rationalismus geprägte Welt der Turmgesellschaft nicht hinein: Sie, die für eine naive, ursprüngliche Kunst stehen, gehen zugrunde. Zuletzt versammeln sich im Haus des Oheims der "schönen Seele" ihre beiden Neffen (Lothario und Friedrich) und Nichten (Natalie und die Gräfin) und besiegeln die Hochzeit Wilhelms mit Natalie.

Der Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre kann, wie Karl Philipp Moritz' Anton Reiser, als historisches Dokument der Theatromanie und der Lebenswirklichkeit zeitgenössischer Wandertruppen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert gelesen werden. Darüber hinaus eröffnen die Lehrjahre ein Kaleidoskop verschiedener Konflikte und Themen, die zu Stationen einer Auseinandersetzung des Protagonisten mit der Umwelt werden: das Verhältnis von Adel und Bürgertum, die Funktion der Kunst, Aufklärung und Freimaurerei, Pietismus. In erster Linie aber wurde Goethes Roman als Bildungsroman rezipiert, der von dem Wunsch des Protagonisten nach Selbstbildung ausgeht und einen langsamen Prozeß der Desillusionierung nachzeichnet, in dem das Ideal einer universellen, harmonischen Ausbildung des Individuums durch die Kunst scheitert und der Held erst in der utopisch-aufklärerischen Gemeinschaft der Turmgesellschaft seine Bestimmung findet.

Wilhelm Meisters Lehrjahre lösten schon unter den romantischen Zeitgenossen eine Kontroverse aus. Während Friedrich Schlegel das Werk in emphatischen Sinn als zeitgenössisch begrüßte, kritisierte Novalis, daß mit Mignon und dem Harfner am Ende die wahrhaft poetischen Figuren untergehen. Hegel dagegen charakterisierte die Lehrjahre als einen Roman, in dem "das Subjekt sich die Hörner abläuft" und sich schließlich "in die bestehenden Verhältnisse und die Vernünftigkeit derselben hineinbildet".

©TvH

Quelle

  • Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre, hg. v. Erich Trunz, München 1981 [=Hamburger Ausgabe, Bd. VII].

Sekundärliteratur

  • H.-E. Hass: Wilhelm Meisters Lehrjahre, in: B. v. Wiese (Hg.): Der deutsche Roman. Vom Barock bis zur Gegenwart, Bd. 1, Düsseldorf 1963, S. 132-210.
  • J. Jacobs: Wilhelm Meister und seine Brüder. Untersuchungen zum deutschen Bildungsroman, München 1972.
  • H. Schlaffer: Wilhelm Meister. Das Ende der Kunst und die Wiederkehr des Mythos, Stuttgart 1980.