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* 26.6.1948, Verden an der Aller

Literaturwissenschaftler

In seiner 1977 veröffentlichten Dissertation mit dem schlichten Titel Hermeneutik nimmt Uwe Japp Peter Szondis Forderung nach der Entwicklung einer literaturspezifischen Hermeneutik auf. "Die philologische Hermeneutik ist also, trotz ihrer langen Geschichte, immer noch ein Projekt." (S. 39) Japp geht von einer prinzipiellen Differenz zwischen Interpretation (Theoriesprache) und dichterischem Werk (Literatursprache) aus. Hermeneutik bzw. Interpretation kann demnach nicht naturwüchsige Einholung des Sinnes sein, sondern bleibt Konstruktion - und eben dies sollte jedem Interpreten bewußt sein.

Die philosophische Hermeneutik Hans-Georg Gadamers hat zwar auch der Literaturwissenschaft zu hermeneutischer Reflexion verholfen; sie führt diese jedoch in Gefahr, als Hermeneutik der Reduktion auf den 'einzig gültigen Sinn' den tatsächlichen Charakter des literarischen Werkes zu verfehlen, dessen sprachliche Mehrdeutigkeit stets vielfachen Sinn produziert und deshalb eine "Hermeneutik der Entfaltung" (S. 47) erfordert. Sie hat die grundsätzliche Polysemie der Sprache, die Eigenheit der Schrift als Literaturmedium, die Zeitstruktur der Werke und ihren historischen Ort (in Distanz zum Interpreten) zu berücksichtigen.

Natürlich kann eine bestimmte Interpretation nicht das ganze Bedeutungspotential eines Werks entfalten. Dies geschieht, wie schon Paul Ricoeur dargestellt hat, erst im "Wettstreit der Interpretationen". Um dabei mitreden zu können, muß sich jede konkurrierende Interpretation um größtmögliche Konsistenz und Plausibilität, d.h. Dichte ihrer Beobachtungen und Widerspruchsfreiheit ihrer Argumentation bemühen. Nur so kann sie konkurrierenden Deutungen standhalten - wobei ihr immer nur der "Status der Wahrscheinlichkeit" zukommt, da sie von künftigen Interpretationen mit neuen Argumenten bzw. Beobachtungen in Frage gestellt und überholt werden kann.

Mit der Einsicht in den Konstruktions-Charakter der Interpretation werden verschiedene ältere oder zeitgenössische Hermeneutik-Konzepte überholt bzw. revidiert. Ein Interpret kann immer nur selektiv vorgehen, unmöglich alle faktischen oder möglichen Kontexte eines Werks erfassen (Schleiermacher). Er vermag sich auch nicht in den Autor oder das Werk 'hineinzuversetzen' (Dilthey) oder den eigenen Verstehenshorizont tatsächlich mit dem kulturellen Horizont des Werkes zu "verschmelzen" (Gadamer).

Auch der "krasse Subjektivismus" der werkimmanenten Interpretation eines Emil Staiger erscheint Japp als vorhermeneutisches Mißverständnis (S. 111f.).

Letzte Instanz aller Interpretationsbemühung bleibt der literarische Text in seiner (sprachlichen) Eigenheit und Kohärenz (Strukturzusammenhang). Zur Erkenntnis dieser Kohärenz tragen aber nichthermeneutische Verfahren, etwa die linguistischen Analysen des Strukturalismus, mehr und genaueres bei als die "traditionellen Verfahren der Hermeneutik" (S. 75); deshalb müssen sie in eine literarische Hermeneutik der Entfaltung methodisch integriert werden.

© DS und JV

Quelle

  • Uwe Japp: Hermeneutik. Der theoretische Diskurs, die Literatur und die Konstruktion ihres Zusammenhangs in den philologischen Wissenschaften, München 1977.