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Autobiographie

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Die Autobiographie ist dem Wortsinne nach eine retrospektive Darstellung des eigenen Lebenslaufes, eine "Selberlebensbeschreibung", wie der Dichter Jean Paul anschaulich übersetzte. Doch kann sie in sehr verschiedener Gestalt auftreten: Zum Beispiel haben Bertolt Brecht (Vom armen B.B.; An die Nachgeborenen) und Gottfried Benn (Teils-teils) eindrucksvolle autobiographische Gedichte verfasst. In der Kurzprosa, auch in Briefen und Tagebüchern, sind autobiographische Skizzen häufig (z.B. Anna Seghers: Zwei Denkmäler). Eine selbst illustrierte Folge solcher Skizzen nennt Günter Grass Mein Jahrhundert. Aber die Normalform des Genres ist ohne Zweifel der umfangreiche Prosabericht, der das eigene Leben oder seine 'Formierungsphase' im Rückblick und mit Anspruch auf Authentizität rekonstruiert; bewertet und deutet (üblich geworden ist dabei die Abgrenzung zu den Memoiren). Autor, 'Erzähler' und Hauptfigur tragen in der Autobiographie den gleichen Namen Damit ist sie als faktuale Erzählform den literarischen Gebrauchsformen zuzurechnen. Sie überschreitet allerdings auch sehr häufig die Grenze zur erzählerischen Fiktion, also zum Roman.

Vorformen autobiographischen Schreibens kennt schon die Antike. Für den europäischen Kulturkreis besonders wichtig sind später die Bekenntnisse (Confessiones) des Kirchenvaters Augustinus (um 400) und der Lebensbericht von Francesco Petrarca (um 1370). Im 17. Jahrhundert dominiert zumindest in Deutschland die Gelehrten-Autobiographie. Eine

Subjektivierung und zunehmende Komplexität der Form, bringt - ähnlich wie beim Brief (der selbst oft autobiograpische Funktion übernimmt) - das 18. Jahrhundert mit sich. Von europäischer Ausstrahlung sind die Bekenntnisse (Les Confessions) von Jean-Jacques Rousseau (1782ff.) Häufig wird die protestantische, speziell pietistische Selbsterforschung als Wurzel der neueren deutschen Autobiographie angesehen. In Johann Heinrich Jung-Stillings vielbändigen Lebenserinnerungen (ab 1777) wird das auf konventionelle Weise deutlich. Seine Zeitgenossen erproben bereits den Spielraum der Gattung: Johann Wolfgang Goethe entwirft in Dichtung und Wahrheit. Aus meinem Leben ein Modell der miteinander verschränkten Selbst- und Epochendeutung, das stilbildend wirkt (auch in der Beschränkung auf die prägende Lebensphase, die mit dem Eintritt in Beruf und Verantwortung abschließt). Andererseits schreibt sein Freund Karl Philipp Moritz unzweifelhaft autobiographisches Material einem stellvertretend-symbolischen Anton Reiser zu und präsentiert es unter der (treffenden, aber auch verdeckenden) Bezeichnung Ein psychologischer Roman.

Damit sind die Fluchtlinien der literarischen Autobiographie bezeichnet: Repräsentative Selbstdeutung und Selbststilisierung einerseits; psychologische Analyse und romanhafte Camouflierung, bzw. der Schritt über die Fiktionalitätsgrenze andererseits. Das erste Modell gerät spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Kategorie des autonomen Subjekts in eine ernsthafte Krise. Das zweite Modell wird aus eben diesen Erfahrungen heraus radikalisiert zu einer 'negativen' Autobiographie, in der die Autonomie und Identität des Subjekts höchst gefährdet - und oftmals nur im Schreibakt selber erreichbar - ist. Dabei kann eine faktuale Variante mit hohem literarischem Anspruch (Jean Paul Sartre: Die Wörter, 1964; Elias Canetti: Die gerettete Zunge, 1976) ebenso gewählt werden wie die fiktionalisierende Einkleidung (Peter Weiss: Abschied von den Eltern. Erzählung, 1961). Vom autobiographischen Roman wird man definitiv dann sprechen, wenn der Autor das Material seiner Lebenserfahrung konsequent in einen fiktionalen Rahmen umsetzt und integriert. Unter den stilbildenden Werken der klassischen Moderne ragt in dieser Hinsicht Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit heraus (1913-1926).

Auch in der Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur ist eine fortdauernde Attraktivität autobiographischer Themen und Schreibweisen festzustellen, die sich aber aus dem Gattungsrahmen lösen (können). Im formalen Spektrum lässt sich dabei der Versuch romanhafter Rückbindung (Christa Wolf: Kindheitsmuster, 1976) ebenso finden wie das buchstäbliche Zerbrechen der Gattungsform (Bernward Vesper: Die Reise, 1977) oder eine Vielfalt von kleineren und thematisch begrenzten Texten - wie etwa die Betroffenheitstexte der Frauenbewegung oder die so genannten 'Väterbücher' seit den siebziger Jahren.

©JZ

Sekundärliteratur

  • M. Holdenried: Autobiographie, Stuttgart 2000.
  • Ph. Lejeune: Der autobiographische Pakt, Frankfurt/M. 1994.
  • M. Wagner-Egelhaaf: Autobiographie, Stuttgart 2000.