Der Bildungs- oder Entwicklungsroman markiert einen entscheidenden Meilenstein in der Genese des deutschen Romans. Er ist sozialgeschichtlich mit der Emanzipation des Bürgertums im Zeitalter der Aufklärung, literaturgeschichtlich mit dem Aufstieg des Romans zu einer anerkannten Gattung verbunden. Gilt der Roman bis weit ins 18. Jahrhundert hinein noch als oberflächliches Genre, das simple Liebesgeschichten einem mehr oder weniger anspruchslosen, ungebildeten Publikum offeriert, so entwickelt sich aufbauend auf die moralische Erzählung (Gellert) einerseits und den 'anthropologischen' Roman (Wielands Agathon) andererseits, der Bildungsroman, der den Charakter und die selbständige Vervollkommnung eines einzelnen Menschen in den Mittelpunkt stellt und damit an zentrale Forderungen Friedrich von Blanckenburgs in seinem berühmten Versuch über den Roman (1774) anknüpft.
Mit Karl Philipp Moritz' Anton Reiser (1785-90) erscheint zunächst gewissermaßen ein Anti-Bildungsroman, der nicht die positive Entwicklung des Protagonisten, sondern die zutiefst deprimierende Reihe von Misserfolgen und die sich daraus ergebenden Deformationen der Hauptfigur aufzeichnet. In Auseinandersetzung mit dieser Folie liefert dann Goethe mit seinem Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/96) das erste und prägende Muster, sozusagen den Prototyp des Bildungsromans. In diesem Sinne hat der Literaturhistoriker Wilhelm Dilthey "die Romane, welche die Schule des Wilhelm Meister ausmachen" (S. 282) Bildungsromane genannt. Formal kennzeichnet diesen Romantypus – darauf hat insbesondere Friedrich Schlegel hingewiesen – eine hochartifizielle, komplexe poetische Konstruktion. Inhaltlich ist ein Roman gemeint, der einen Bildung suchenden Protagonisten vorführt und dessen Entwicklung nachzeichnet, wobei Krisen- und Konfliktsituationen als notwendige Durchgangsstationen zur harmonischen Selbstbildung verstanden werden.
Wilhelm Meister unterstellt als Bildungsziel ein reifes Subjekt, das den Konflikt zwischen individuellem, künstlerischem Selbstverwirklichungsanspruch und gesellschaftlich verordneter Notwendigkeit zugunsten einer humanistisch-ganzheitlichen Bildung überwunden hat. Wie zweifelhaft dieses Ideal ist, hat schon Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik angedeutet, wenn er konstatierte, dass "das Ende solcher Lehrjahre [darin bestehe], das sich das Subjekt die Hörner abläuft, mit seinem Wünschen und Meinen sich in die bestehenden Verhältnisse und die Vernünftigkeit derselben hineinbildet, in die Verkettung der Welt eintritt und in ihr einen angemessenen Standpunkt erwirbt", um "ein Philister so gut wie die anderen auch" zu werden (S. 220).
So überrascht es nicht, dass in den Bildungsromanen der Romantiker das Muster einer teleologisch sich vollziehenden Entwicklung zu einem integrierten Mitglied der Gesellschaft nicht bruchlos übernommen oder sogar grundsätzlich in Frage gestellt wird. Vielmehr gewinnt der Kontrast zwischen poetischer und realer Welt zunehmend an Schärfe - zu denken ist hier an so verschiedene Texte wie Joseph von Novalis' Heinrich von Ofterdingen (1802), Jean Pauls Flegeljahre (1804/05), Eichendorffs Ahnung und Gegenwart (1815) und E.T.A. Hoffmanns Lebensansichten des Katers Murr (1820-22).
In der Mitte des 19. Jahrhunderts wandelt sich der Bildungsroman dann in den 'Desillusionsroman' (Georg Lukács), wie sich etwa an Gottfried Kellers Roman Der Grüne Heinrich (1854/55) zeigen lässt. Ob schließlich die großen Romane des 20. Jahrhunderts wie etwa Thomas Manns Zauberberg (1924) überhaupt noch zur Gattung des Bildungsromans gerechnet werden können, ob Günter Grass' Roman Die Blechtrommel (1959) den Bildungsroman des Oskar Matzerath 'auf Blech getrommelt' erzählt, oder ob im Gegenteil dieses tradierte Erzählmuster der Vergangenheit angehört und sich nur in der Literaturwissenschaft aufgrund seines hohen Wiedererkennungswertes großer Beliebtheit erfreut, ist in der Forschung umstritten.
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Sekundärliteratur
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