"Lenz"

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Georg Büchner (1813-1837), der sich als politischer Flüchtling, steckbrieflich gesucht, 1835 und 1836 in Straßburg aufhielt, kam hier mit Quellen über den Dichter Jakob Michael Reinhold Lenz (1751-1792) und dessen psychischen Zusammenbruch 1777/1778 in Kontakt. "Ich habe mir hier allerhand interessante Notizen über einen Freund Goethes, einen unglücklichen Poeten Namens Lenz verschafft, der sich gleichzeitig mit Goethe hier aufhielt und halb verrückt wurde." (Brief an die Familie vom Oktober 1835). Gegenstand der Büchnerschen Erzählung, die in fortgeschrittenem Entwurfsstadium unvollendetes Fragment geblieben ist, ist nicht das Leben des Stürmer und Drängers insgesamt, sondern allein der kurze Aufenthalt (20.1. - 8.2.1778) Lenzens im vogesischen Steintal bei dem philanthropischen Pfarrer und Sozialreformer Johann Friedrich Oberlin (1740 - 1826). Die Hauptquelle Büchners ist - neben den herablassenden Bemerkungen Goethes über Lenz aus Dichtung und Wahrheit - der Rechtfertigungsbericht, den Oberlin über Lenzens Aufenthalt unmittelbar nach seinem Entschluß, den zunehmend psychotischen Lenz nach Straßburg bringen zu lassen, angefertigt hatte.

Büchners Interesse an Lenz und dessen Wahnzuständen ist nicht nur dasjenige des Literaten und Lenzlesers, sondern zugleich das des Mediziners und Naturforschers. Aus Büchners naturwissenschaftlichen Studien (etwa zeitgleich mit der Erzählung Lenz arbeitete Büchner im Winter 1835/36 an seiner Dissertation über die Schädelnerven einer Karpfenart) resultiere, so formuliert es treffend Büchners Freund Karl Gutzkow (1811 - 1878), "Ihre Autopsie, die aus allem spricht, was Sie schreiben". (Gutzkow an Büchner am 10.6.1836). Diese naturwissenschaftliche Sehweise verbindet sich bei Büchner mit einer bis heute modern wirkenden poetischen Darstellungskraft innerer Zustände.

Die Erzählung Lenz ist ein Text mit auf der Handlungsebene gleichsam abgeschnittenen Rändern, der ein intensives Konzentrat von Innenansichten liefert, die gleichwohl von Außen, mittels Bildern und Vergleichen, erzählt werden. Die immer wieder auftauchende Formel dafür lautet: Es war ihm als ob... : "Es war ihm alles so kein, so nahe, so naß, er hätte die Erde hinter den Ofen setzen mögen"; "Es war als ginge ihm was nach"; "Es war ihm als sei er blind"; "Es war ihm als müsse er sich auflösen" usw. Dadurch wird der Wahnsinn nicht als das Andere der Normalität, sondern als Grenzwert jeden menschlichen Erlebens gefaßt. Beispielhaft und einzigartig in der deutschen Literatur ist allein die erste Seite der Erzählung, die von Lenz' Wanderung durch die Vogesen nach Waldersbach berichtet. Hier ist die psychotische Wahrnehmung der Hauptfigur in die Struktur der Naturbeschreibung eingelassen. Büchner stellt seinen Protagonisten hinein in einen riesigen Naturkosmos, dessen räumliche und zeitliche Parameter ("herauf" und "herab", "nahe" und "fern") eine totale Desorientierung und Haltlosigkeit markieren, in der keine Inversion der üblichen Ordnung mehr undenkbar ist: "Er ging gleichgültig weiter, es lag ihm nichts am Weg, bald auf- bald abwärts. Müdigkeit spürte er keine, nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehen konnte." Der so geschilderte Selbst- und Weltverlust führt zu Angstzuständen und masochistischer Selbstzerstörung, um im physischen Schmerz zur Realität zurückzufinden.

Büchner hält sich, was die Chronologie der geschilderten Ereignisse angeht, sehr eng an seine Hauptquelle. Einzelne Dialogpassagen sind wörtlich übernommen. Nachdem Lenz zunächst freundlich im Pfarrhause Oberlin aufgenommen wird, er Oberlin bei seinen Ausritten in die umliegenden Dörfer begleitet und Sonntags die Predigt hält, stabilisiert sich sein Zustand. Eine entscheidende Zäsur auf der Handlungsebene stellt dann die Ankunft Christoph Kaufmanns (1753-1795) dar, der Pfarrer Oberlin zusammen mit seiner Braut besucht. Büchner fügt hier zum einen ein fiktives Gespräch über Kunst ein, in dem er Lenz seine eigene anti-idealistische Kunsttheorie in den Mund legt. "Dieser Idealismus ist die schmählichste Verachtung der menschlichen Natur." Dabei trifft Büchner durchaus auch einen Kernpunkt der Lenzschen Poetik, die artikulierte Hoffnung nämlich, man könne sich "in das Leben des Geringsten" versenken und es darstellen, man könne, wie es bei Lenz heißt, sich "ganz in den Gesichtskreis dieser Armen herabniedrigen." (Lenz an Sophie La Roche im Juli 1775).

Zum anderen schließt sich an die Ankunft Kaufmanns die Abreise Kaufmanns und Oberlins nach Emmendingen. Schon die Abwesenheit Oberlins wirkt destabilisierend auf Lenz, mehr aber noch Oberlins verfrühte Rückkehr. Oberlin, der in Emmendingen von Goethes Schwager, Johann Georg Schlosser (1739-1799), über die Hintergründe von Lenz Biographie informiert worden war, ändert nun sein Verhalten gegenüber Lenz. Hatte er ihn zu Beginn gewissermaßen vorurteils- und urteilslos angenommen, so verweist er ihn nun an den Vater und an Gott. Hart läßt Büchner die religiöse Dimension von Lenzens Depression mit der Hilflosigkeit Oberlins aufeinandertreffen, der ihn an eben jenen Gott verweist, den Lenz verloren hat. Zudem folgt Oberlin nach seiner Reise einem Kausalschema gemäß dem der Wahnsinn als Strafe für ein sündiges Leben anzusehen sei. Daraufhin verschlechtert sich Lenz' Zustand immer mehr, bis Oberlin sich gezwungen sieht, Lenz aus Waldersbach zu entfernen. Während Büchner einerseits durch die Erkundung der subjektiven Innensicht des psychotischen Erlebens die Frage nach der Ursache des Wahnsinns in seiner exakt-poetischen Beschreibung aufgehen läßt und in ihr aufhebt, zeigt er andererseits in der Figur Oberlin, wie der (moralische) Diskurs über die Ursache den Wahnsinn selbst verstärkt.

Die Erzählung hat seit Ende des 19. Jahrhunderts (Gerhart Hauptmann, Hugo v. Hofmannsthal) eine bis heute (Peter Schneider) dauernde Nachwirkung entfaltet.

© JL

Quelle

Sekundärliteratur