Paul Ricoeur

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*27.2.1913, Valence

Philosoph

Ricoeur zählt zu den wenigen bedeutenden Denkern, die außerhalb Deutschlands dezidiert hermeneutische Positionen zur Begründung und zur Methodik der Humanwissenschaften entwickelt haben. Dies geschieht zunächst in enger Berührung mit der theologischen Hermeneutik, der Existenzphilosophie Heideggers und der Psychoanalyse Freuds. Auch wenn er dabei Ziele einer allgemeinen Hermeneutik verfolgt, so entwickelt Ricoeur immer wieder Kategorien und Überlegungen, die für eine literarische Hermeneutik von hohem Anregungswert sind.

Zunächst ist die grundlegende Vorstellung von der bedeutungsstiftenden Kraft symbolischer Formen zu nennen, also z.B. der erzählerischen Fiktion oder der Metapher, die Ricoeur der traditionell philosophischen, insbesondere der logischen Erkenntnis als gleichwertige Alternative an die Seite stellt (dazu Ricoeurs Bücher Die lebendige Metapher, 1975, und Zeit und Erzählung, 3 Bde., 1983ff.).

Sodann trifft er eine fruchtbare Unterscheidung zwischen zwei hermeneutischen Traditionslinien, die er als Sammlung des Sinns und Übung des Zweifels bezeichnet. Der ersten geht es um Teilhabe an der Überlieferung, der zweiten um deren kritische Durchleuchtung. Karl Marx, Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud sind für Ricoeur "drei große 'Zerstörer'", die "den Horizont für eine authentischere Sprache" freilegen; und "gegen die Vorurteile ihrer Zeit eine mittelbare Wissenschaft des Sinns schaffen, die nicht auf das unmittelbare Bewußtsein des Sinns zurückführbar ist." (Die Interpretation, S.46f.) Damit wird die auch in Deutschland diskutierte Frage nach dem Verhältnis von Hermeneutik und Ideologiekritik ebenso berührt wie Jürgen Habermas' Erläuterung der Freudschen "Tiefenhermeneutik".

Schließlich verweist Ricouer sehr nachdrücklich auf die Textauslegung (und damit auf die Lesesituation) als hermeneutisches Modell und deren Differenz zum (etwa von Hans Georg Gadamer favorisierten) Modell des Gesprächs. Sie weist vier Grundzüge auf: 1. Fixierung des Sinngehalts, 2. Trennung des Sinngehalts und geistiger Intention des Autors, 3. die Entfaltung von nicht-ostentativen Bezügen, 4. die unbegrenzte Reihe der Adressaten. - Diese "Objektivität des Textes" führt nun in doppelter Hinsicht über eine 'Einfühlungshermeneutik' im Sinne Diltheys (oder auch der werkimmanenten Interpretation) hinaus.

Zum einen ermöglicht sie eine Unterscheidung von Autor- und Werkintention (wie sie später Umberto Eco betonen wird) und öffnet die Dimension der Wirkungsgeschichte, in der "wir [...] die potentiellen, nicht-ostentativen Bezüge des Textes in einer neuen Situation, in der des Lesers, zum Leben erwecken." (Der Text als Modell, S.109) Damit wird Ricoeur zum Vordenker einer später von Uwe Japp so genannten "Hermeneutik der Entfaltung"; er selbst schreibt unter Anspielung auf eine berühmte Formulierung Schleiermachers: "Einen Autor besser verstehen als er sich verstanden hat, heißt, die in seinem Diskurs eingeschlossenen Bewußtseinsvorgänge über den Horizont seiner eigenen existenziellen Erfahrung hinaus zu entfalten." (S.113)

Zum andern aber kann man den Text, unter Ausschaltung aller Bezüge zur Außenwelt, als ein in sich geschlossenes System ganz 'von innen' betrachten: dieser "Weg des Lesens wird heute durch die verschiedenen strukturalistischen Schulen der Literaturkritik exemplifiziert." (S.109) In der Kombination beider Zugänge, einer "Dialektik von Verstehen und Erklären", oder umgekehrt: von "Entschlüsselung und Aneignung" (S.113), ist Ricouers eigenständige hermeneutische Position zu fassen. In der (deutschen) Literaturwissenschaft ist das Konzept einer hermeneutischen Integration von analytischen Verfahren des Strukturalismus besonders von Karlheinz Stierle weitergeführt worden.

© JV

Wichtige Schriften

Sekundärliteratur