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Rolf Grimminger u.a.

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* 1941

Literaturwissenschaftler

Der Bielefelder Germanist Rolf Grimminger ist vor allem als Herausgeber von Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur hervorgetreten. In diesem umfassenden Projekt versuchten zahlreiche Autoren die Entwicklung der deutschen Literatur von den ersten Anfängen einer 'bürgerlichen Gesellschaft' im 16. Jahrhundert bis heute darzustellen. Grimminger steht hier also stellvertretend für eine ganze Autorengruppe. Dieses Prinzip der Preisgabe der individuellen Autorschaft zugunsten der Herausgeberschaft ist in den letzten Jahrzehnten zu einem verbreiteten Modell bei der Erstellung breitangelegter, mehrbändiger Literaturgeschichten geworden. Es gibt nicht mehr den einzelnen Wissenschaftler, der im Stile eines Lebenswerks eine definitive Literaturgeschichte seiner Zeit zu schreiben versucht, sondern das Autorenkollektiv, das arbeitsteilig und mit größtmöglicher Spezialkompetenz ausgestattet gemeinsam an einem Projekt arbeitet.

Das Besondere an der von Grimminger herausgegebenen Sozialgeschichte der deutschen Literatur ist, daß sie Literatur nicht nur unter ästhetischen oder philosophischen Aspekten darstellt, sondern vielmehr unter Einbeziehung der sie umgebenden Kultur und der sozialen Bedingungen ihres Entstehens zu beschreiben versucht. Wie dieses Vorhaben genau angelegt ist, sollen einige Auszüge aus den Vorbemerkungen des dritten Bandes, der sich mit der Literatur von der deutschen Aufklärung bis zur Französischen Revolution beschäftigt, verdeutlichen:

"'Sozialgeschichte‘ wird hier nicht als Begriff für eine Sektorwissenschaft, sondern in ihrer umfassenden Bedeutung verstanden. Sie schließt also mit der Geschichte gesellschaftlichen Handelns auch politische, Wirtschafts- und Bewußtseinsgeschichte so weit ein, als dies für ein angemessenes Verständnis von Literatur erforderlich ist. Denn selbst literarische Kunstwerke oder philosophische Literatur können ohne Kenntnis jener sozialen Wirklichkeit, die sie in ihren Sprachformen stets schon zu Sinnzusammenhängen verarbeitet haben, nur unzureichend oder gar falsch verstanden werden. Insofern ist nicht nur pragmatische oder rein 'unterhaltsame', sondern auch die sogenannte Höhenkammliteratur unmittelbar auf die historisch bestehenden Möglichkeiten des Bewußtseins und Handelns in der Gesellschaft bezogen.

Zugleich aber sind literarische Texte nie schlechterdings damit identisch, und gerade die 'hohe' Literatur weicht wegen ihrer ästhetischen und philosophischen besonderen Qualität sowohl von den Bestimmungen sozialer Praxis als auch vom Bewußtsein, das dieser zugeordnet zu sein pflegt, meist erheblich ab. Insofern verhält sie sich auch negativ dazu. Solche Übereinstimmungen und Differenzen zwischen der Literatur und der Lebenspraxis einer Gesellschaft sind für jeden Leser wichtig und daher selbst als soziale Tatsache zu bewerten: Sie steuern seinen Willen zur Lektüre, zur Teilhabe an der literarischen Kommunikation." (S. 7)

An dieser Stelle wird schon deutlich, daß es diesem literaturgeschichtlichen Projekt nicht um den Nachweis der Widerspiegelungstheorie geht, also um das einfache Ineinssetzen von gesellschaftlichen Phänomen und ihrem literarischen Ausdruck, sondern der Literatur eine spezifische Qualität zugesprochen wird: die des 'Hinausweisens' über die gesellschaftliche Praxis, natürlich immer gebunden an das, was der Autor als gesellschaftliche Realität vorfindet. Auch wird der Literatur ihre spezifische ästhetische Qualität nicht abgesprochen, denn sie soll in der "Eigenart ihres unmittelbar an Sprache und künstlerische Ausdrucksformen gebundenen Bewußtseins beschrieben werden." (S. 7) Trotzdem interessieren ja gerade die Bedingungen des literarischen Schaffens; deswegen wird jeder Band der von Grimminger herausgegebenen Literaturgeschichte von Kapiteln zur politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Situation der Zeit, zur sozialen Mentalität und literarischen Kultur einer Epoche eingeleitet. Aber auch die "Institutionen der Öffentlichkeit – so der literarische Markt, die Bildungsinstitutionen und Medien" (S. 8) – werden dargestellt. Diese Institutionen werden nicht verstanden als etwas der Literatur Äußerliches, "sondern prägen ihre Qualität und ihren Umfang sowie die Art ihrer Rezeption in jeder Epoche entscheidend." (S. 8)

Diesen einleitenden, sozialgeschichtlichen Teilen folgen Untersuchungen zu literarischen Gattungen, einzelnen Autoren und Werken sowie zu gesamteuropäischen Konstellationen der Literatur. Diese Zweiteilung der Darstellung soll jedoch auf keinen Fall den herzustellenden Gesamtzusammenhang aus dem Auge geraten lassen:

"Erst der Gesamtzusammenhang – signalisiert auch durch zahlreiche Querverweise – ermöglicht eine begründete 'Sozialgeschichte der Literatur'. Er besteht in der Einheit der beiden Teile, die sowohl vom Verstehen und Bewältigen der stets problematischen historischen Wirklichkeit durch Literatur als auch von dieser Wirklichkeit selbst handeln. Literaturgeschichte wird also nicht an Sozialgeschichte angehängt, und Sozialgeschichte wird nicht nach der beliebten Metapher des 'Hintergrunds' der Interpretation von Literatur ferngehalten. Daß gleichwohl zwei voneinander unterscheidbare Teile vorhanden sind, ergibt sich aus dem Erkenntnisinteresse und den Darstellungszwängen sozialgeschichtlich betriebener Literaturgeschichtsschreibung selbst. Sie läßt sich nämlich weder in den bloßen Kategorien zum historischen Gesamtprozeß noch im puren Material der literarischen Werke allein betreiben. Sie braucht jene notwendige Verbindung zwischen beiden, die in der Gliederung abgebildet ist." (S. 8f.)

Daß die hochgesteckten Ziele dieses literaturgeschichtlichen Projektes notwendig bei der Anzahl der beteiligten Wissenschaftler nicht immer vollkommen verwirklicht werden konnten, versteht sich von selber.

©rein

Quelle

  • Rolf Grimminger (Hg.): Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur. Bd. 3: Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution. 1680-1789, 1. Teilband, München 1980.

Wichtige Schriften

  • Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur (1980) Gesamtherausgabe.

Sekundärliteratur

  • R. von Heydebrand (Hg.): Zur theoretischen Grundlegung einer Sozialgeschichte der Literatur. Ein struktural-funktionaler Entwurf, Tübingen 1988.
  • W. Schieder (Hg.): Literatur und Sozialgeschichte, Göttingen 1983.
  • E. Schön: Sozialgeschichtliche Literaturwissenschaft, in: H. Brackert / J. Stückrath (Hg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs, Reinbek bei Hamburg 1995, S. 606-619.