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Diese Bezeichnung hat sich zunächst im Tagesgeschäft des Literaturbetriebs eingebürgert und erst allmählich als literaturwissenschaftlicher Epochenbegriff verfestigt. Heute ist damit zumeist - und auch hier - die deutschsprachige Literatur gemeint, die nach dem Zweiten Weltkrieg in den sog. Westzonen, der späteren Bundesrepublik (ab 1949) sowie in Österreich und der deutschsprachigen Schweiz verfasst und veröffentlicht wurde. Das lässt sich damit begründen, dass - trotz erkennbar unterschiedlicher Traditionen und Mentalitäten in diesen drei Gesellschaften - die Autoren und Autorinnen der Jahre nach 1945 sehr ähnliche Positionen, Themen und Schreibweisen entwickelten und auf ökonomischer Ebene (z.B. im Verlagswesen) wie auch persönlich und berufsständisch (z.B. in der Gruppe 47) eng miteinander vernetzt waren. Die in der Sowjetischen Besatzungszone und ihrem Folgestaat entstandene Literatur war dagegen sehr bald einer intensiven politischen Lenkung unterworfen und sollte schon deshalb gesondert betrachtet werden.

Die Nachkriegsliteratur setzt angesichts der materiellen Zerstörung jedenfalls in Deutschland verzögert ein: ihre ersten bedeutenden Texte (z.B. Wolfgang Borcherts Hörspiel Draußen vor der Tür) stehen 1946/47 in seltsamer Gleichzeitigkeit mit den letzten großen Werken der Exilliteratur (Thomas Mann: Doktor Faustus). Die Erfahrungen von Krieg und Nachkriegszeit dominieren thematisch bis in die fünfziger Jahre hinein (Heinrich Bölls Romane und Kurzgeschichten); verbreitet ist das Bewusstsein eines Traditionsbruchs und Neuanfangs (Schlagwörter: Trümmerliteratur, Stunde Null, Kahlschlag). Dem entspricht eine lakonisch reduzierte, pathos-resistente Sprache, die u.a. von der modernen amerikanischen Kurzprosa inspiriert ist.

In den fünfziger Jahren äußern sich, im Schatten von Atombombe und Korea-Krieg, Ängste vor einem Dritten Weltkrieg, aber auch das Misstrauen gegen die vor allem in Westdeutschland sich durchsetzende Wirtschaftswunder-Mentalität (Ingeborg Bachmann, Günter Eich). Die Autoren verstehen sich als "Nonkonformisten" , kritische Außenseiter der Wohlstandgesellschaft, die sie in zunehmend komplexeren Prosawerken durchleuchten (Martin Walser). Dabei rückt dann auch die Vorgeschichte des Nachkriegs, also die Zeit des Nationalsozialismus - zumindest in ihren alltäglichen Erscheinungsformen - in den Blick (Günter Grass: Die Blechtrommel, 1959).

Das Zentrum des Schreckens, der Holocaust, bleibt lange ausgespart. Erst Mitte der sechziger Jahre provoziert das dokumentarische Theater die deutsche Öffentlichkeit, indem es die Mitschuld des Vatikans bzw. der deutschen Großindustrie einklagt (Rolf Hochhuth; Peter Weiss). Insgesamt ist eine deutliche Politisierung der Literatur wahrzunehmen, die sich in Formen öffentlichen Engagements, aber auch in neuen Themen und Schreibweisen äußert (Literatur der Arbeitswelt). Sprachexperimentelle Richtungen finden Interesse, bleiben insgesamt aber minoritär (Ernst Jandl, Konkrete Poesie). Die studentische Protestbewegung von 1967/68 übernimmt die gesellschaftskritische Funktion von den literarischen Nonkonformisten; die repräsentative Institution der Gruppe 47 löst sich auf; kritische Stimmen von gesellschaftlichem Gewicht werden allmählich isolierter (Heinrich Böll). In den siebziger Jahren wendet sich eine neue Generation von Autor/inn/en (die den Krieg nicht mehr oder nur als Kinder erlebt haben) individuellen, ja intimen Themen und Problematiken zu (Beziehungsprobleme, weibliche Identität, Krankheit und Drogen usw.). Diese "neuen Subjektivität" erprobt und variiert traditionelle Formen subjektiven Schreibens wie Autobiographie, Tagebuch und Brief. In den maßstabsetzenden Texten dieser "Welle" (z.B. Bernward Vesper: Die Reise) ist persönliches Leiden jedoch immer noch eingebunden in und verursacht durch Nazizeit und Krieg. Das gilt auch noch für die so genannten "Väterbücher" der frühen achtziger Jahre.

In der Breite gesehen, erschöpft sich jedoch die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus als Triebkraft des Schreibens allmählich. Damit gelangt auch der politisch-moralische "Sonderweg" der deutschen Nachkriegsliteratur ans Ende. Seit den siebziger Jahren ist eine zunehmende Pluralisierung der Themen und Schreibweisen, und eine Entgrenzung verschiedener literarischer Bereiche (Hoch- und Trivialliteratur, Erwachsenen- und Jugendliteratur; aus Lesersicht auch: deutsche und ausländische Literatur) zu konstatieren. Mit einer deutlichen Aufwertung des Unterhaltsamen (Patrick Süskind: Das Parfüm) löst sich die deutschsprachige Literatur vom moralisch geprägten Modell der Nonkonformisten. Die Nachkriegsliteratur löst sich ihrer Substanz nach auf und geht, ohne dass man ein bestimmtes Grenzdatum festhalten könnte, in die Gegenwartsliteratur über.

Die zwangsläufige Auflösung des Sondermodells Literatur der DDR nach 1989 hat diesen Prozess insgesamt nur verstärkt.

© JZ

Sekundärliteratur

  • R. Schnell: Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945, Stuttgart u.a. 1993.
  • L. Fischer (Hg.): Literatur in der Bundesrepublik Deutschland bis 1967, Stuttgart 1986.
  • J. Vogt: "Erinnerung ist unsere Aufgabe". Über Literatur, Moral und Politik 1945-1990, Opladen 1991.