Drucken

Bekanntlich verstand Brecht seine Theaterstücke als Stationen eines offenen Prozesses fortwährender Überarbeitung und Aktualisierung. Dies gilt auch und gerade für seinen Galilei. Bei der Auseinandersetzung mit dem Leben und Werk des Gründervaters der neuzeitlichen Physik - der einerseits das geozentrische Weltbild begrub, indem er die Thesen des Kopernikus bewies, und den neuen Blick der Naturwissenschaft prägte, andererseits aber unter dem Druck der päpstlichen Inquisition seine Lehre widerrief - verschob er unter dem Eindruck der weltgeschichtlichen Ereignisse mehrfach die Schwerpunkte. Die Zeit seiner Arbeit am Stoff umfaßte - mit einigen Unterbrechungen - den oben angegebenen Zeitraum von einer ersten Fassung im dänischen Exil 1938/39 bis zu den Probearbeiten am Berliner Ensemble 1956 kurz vor seinem Tod (die Aufführung selbst fand posthum 1957 statt).

In einem breitgefaßten epischen Bogen wird das Leben des italienischen Naturforschers in zuletzt 15 lose zusammenhängenden Szenen beschrieben, die in mehr oder weniger großen Zeitsprüngen die Zeitspanne vom Mittvierziger Galilei bis zum erblindeten Greis umfassen. Galileo Galilei ist zu Anfang des Stücks ein angesehener, aber noch nicht berühmter Mann, der nach dem Bericht eines neuen Schülers das in Holland erfundene Fernrohr nachbaut und seinen Geldgebern als eigene Erfindung verkauft. Mit dem neuen Instrument sieht er sich endlich in der Lage, die Theorien des Kopernikus zu beweisen. Um Muße für seine Forschungen zu haben, wechselt er aus dem freien Padua, wo er unter dem Schutz und Druck der ihn finanzierenden Kaufleute steht, an den Hof nach Florenz, der dem Papst verpflichtet ist. Galileis Beobachtungen werden zuerst von der Kurie bestätigt, dann aber verboten. Nach einem achtjährigen Schweigen setzt Galilei, der sich bei allem naturwissenschaftlichen Scharfblick einen eher naiven Glauben an die menschliche Vernunft erhalten hat, unter einem neuen Papst, der selbst Naturwissenschaftler war, seine Forschungen fort. Der aber läßt Galilei zum Widerruf zwingen, indem er dem Genuß- und Sinnesmenschen die Folterinstrumente zeigt.

Gerade in der Bewertung dieses Widerrufs unterscheiden sich die verschiedenen Bearbeitungen Brechts - und damit vor allem der Schluß der unterschiedlichen Fassungen. In der ersten Fassung aus dem dänischen Exil erscheint der Widerruf noch als "List der Vernunft", die es Galilei ermöglicht, im Stillen seine Forschungen weiter zu betreiben. In der zweiten Fassung, die im amerikanischen Exil in der Zusammenarbeit mit Charles Laughton entstand, wird die Figur viel negativer gesehen. Unter dem Schock des Atombombenabwurfs auf Hiroshima und Nagasaki erscheint Galilei als Verbrecher, der zu feige war, durch seinen Widerstand ein naturwissenschaftliches Ethos zu schaffen, das den Mißbrauch der Forschung ächtet. Diese Fassung endet mit der Selbstanklage Galileis. In der dritten Fassung wird dieser pessimistische Schluß etwas aufgehellt: In der Schlußszene, nach der Selbstanklage des Lehrers, wird sein früherer Schüler gezeigt, der nun das bahnbrechende Werk Galileis in die freien Niederlande schmuggelt.

Das Leben des Galilei ist nicht nur eines der meistgespielten, sondern auch eines der umstrittensten Stücke Brechts - vor allem, weil es von allen Schaustücken der Exilzeit am wenigsten den Ansprüchen seines Epischen Theaters entspricht: Zwar bleibt die Dramaturgie weitgehend offen und die Fabel eher "undramatisch" - allerdings beherrscht die Figur des Galilei das gesamte Stück, auch in den (wenigen) Szenen, in denen er nicht auf der Bühne erscheint. Das entspricht eher dem Verständnis des traditionellen, an Identifikationsfiguren orientierten Theaters und widerspricht einer Dramaturgie, die historisch gewachsene gesellschaftlich-ökonomische Zusammenhänge offenzulegen sucht. Vor diesem Hintergrund bleibt die von Brecht stets betonte Verdammung der Figur des Galilei unter seinem üblichen analytischen Niveau: der Glaube an die exemplarischen Wirkungsmöglichkeit des Einzelnen entspricht eher den Wirkungsabsichten Schillers als Brechts.

Auf der anderen Seite bietet aber gerade die Figur des Protagonisten (der hier wirklich im Mittelpunkt steht) eine Möglichkeit, sich dem Stück zu nähern. Zum einen hat Brecht in seinem Versuch, sein Theaterkonzept in populärer Form bekanntzumachen, ausdrücklich auf den verfremdenden Blick Galileis hingewiesen. Zum anderen kann gerade der Genußmensch Galilei als ein Vorbild brechtschen Denkens überhaupt gesehen werden: "Er denkt aus Sinnlichkeit." (S. 89) Denn Brecht selbst war in des Wortes umfassendster Bedeutung ein lustvoller Denker.

© JK

Quelle