Startseite
Achtung, öffnet in einem neuen Fenster. PDFDruckenE-Mail

Entwickelte Gesellschaften pflegen die Normen des Verhaltens, die ein möglichst konfliktarmes Zusammenleben sichern sollen, in Form von Texten zu fixieren, die Gesetze genannt werden. Gesetzestexte beanspruchen universelle Geltung, d.h. sie sollen alle vorkommenden Fälle, Zweifels-, Streit- und Konfliktfälle erfassen. Das kann aber nie völlig gelingen, weil es - wie der englische Philosoph John Locke schon im 18. Jahrhundert bemerkt hat - sehr viel mehr Sachen (also: Situationen, Fälle) gibt als Wörter (bzw. Gesetze). Wie läßt sich dieses Problem bewältigen? Die Deutschen haben sich, in der Tradition des Römischen Rechts und ihrer eigenen, idealistischen Philosophie dafür entschieden, ein möglichst differenziertes (aber notwendig abstraktes) System von normativen Begriffen zu erstellen. In der Rechtsprechung ist dann zu entscheiden, ob der konkrete Fall unter die abstrakte Norm fällt. Das erweckt oft den Anschein einer logischen Operation. Tatsächlich ist es aber eher eine hermeneutische, nämlich die versuchsweise Auslegung oder Interpretation eines Gesetzes auf eine konkrete Situation hin - eine Applikation, die als plausibel anerkannt wird oder nicht. Dabei gibt es eine Anzahl von Interpretationshilfen: Kommentare zu den Gesetzen, Gesetzeskommentare, Sammlungen von exemplarischen Fällen und Entscheidungen, umfangreiche Fachliteratur und schließlich die Orientierung an der herrschenden Meinung, also der Auslegung, die sich - aus welchen Gründen auch immer - durchgesetzt hat.

Die zentrale hermeneutische Situation in Streitfällen ist das Gerichtsverfahren: Hier wird in einer mehr oder weniger geregelten Prozedur überprüft, ob der tatsächliche Fall unter die Geltung einer gesetzlichen Norm fällt oder nicht. Dabei dürfen von definierten Rollenträgern, etwa von den Rechtsanwälten streitender Zivilparteien, konkurrierende (und jeweils interessengeleitete) Interpretationen vorgetragen werden. Der oder die Richter entscheiden den Streit der Interpretationen (Paul Ricoeur), sie besitzen eine vom Staat und seinem Gewaltmonopol garantierte Interpretations- und Entscheidungsmacht; manchmal setzt sich allerdings der Streit der Interpretationen innerhalb eines Gerichts fort.

Im modernen rechtsstaatlichen Verfahren wird die Gefahr der 'falschen' Interpretation durch ein mehrstufiges Verfahren eingegrenzt. Die Deutung bzw. das Urteil einer Instanz kann bestritten und gegebenenfalls revidiert werden. In jedem Fall aber ist es Ziel der Rechtssprechung, dem notwendig unspezifisch bleibenden Gesetzestext eine eindeutige Auslegung, Applikation oder Konkretisierung zu geben. Ein grundsätzliches Problem, das sich dabei stellen kann, ist das der Historizität. Gesetzestexte müssen ergänzt, verändert, "novelliert" werden, um die Vielfalt der Fälle, und die neuartigen Fälle zu erfassen, die unsere historisch sich wandelnde Lebenswelt hervorbringt. Anders als in der theologischen Hermeneutik hilft es in der Rechtssprechung nur sehr begrenzt, die alten Formulierungen auf neue Situationen zu übertragen, also symbolisch zu interpretieren: das würde dem Gebot der Eindeutigkeit und Sachangemessenheit zuwiderlaufen.

© DS und JV

Sekundärliteratur

  • J. Esser: Die Interpretation im Recht, in: Studium Generale 7 (1954), S. 372-379.
  • M. Kriele: Besonderheiten juristischer Hermeneutik, ebd., S. 409-412.
  • D. Nörr: Triviales und Aporetisches zur juristischen Hermeneutik, in: M. Fuhrmann / H.R. Jauß / W. Pannenberg (Hg.): Text und Applikation. Theologie, Jurispudenz und Literaturwissenschaft im hermeneutischen Gespräch, München 1981, S. 235-246.