Brief

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von lat. breve scriptum: kurzes Schreiben

Als schriftliche Mitteilung an einen/mehrere räumlich entfernte/n Adressaten ist der Brief in pragmatischer wie in kulturgeschichtlicher Hinsicht eine der wichtigsten literarischen Gebrauchsformen; er besitzt eine deutlichen Affinität zur Fiktionalisierung. In rudimentärer Form ist die briefliche Mitteilung so alt wie die Schrift überhaupt - Briefe herrschaftlichen oder auch ökonomischen Charakters kennen bereits die orientalischen Hochkulturen (seit dem 3. Jahrtausend v. Chr.). Auch im klassischen Altertum und noch im Mittelalter dominieren offizielle oder geschäftliche Schreiben als Medium von Verwaltung, politischer und wirtschaftlicher Information. Langsam aber sicher entwickelt sich jedoch auch eine persönliche Briefform: Francesco Petrarcas Entdeckung der Briefe Ciceros wirkt in der Renaissance als kräftiger Impuls. Die Briefe, die Madame de Sévigné am Hof von Versailles schreibt, markieren im 17. Jahrhundert einen ersten Gipfelpunkt des literarisch verfeinerten Briefes. Währenddessen dominiert in Deutschland noch das amtliche Schreiben oder der schwerfällige Gelehrtenbrief. Erst Gottsched, Lessing und Gellert ermuntern ihre Zeitgenossen, den Brief als Ausdruck der Persönlichkeit, ja der "Seele" zu nutzen - und so entwickelt sich auch in Deutschland eine "empfindsame" Briefkultur, an der Goethe und seine Zeitgenos/inn/en mit Begeisterung teilnehmen. Das achtzehnte Jahrhundert ist "das Jahrhundert des Briefes" schlechthin. Goethe selbst hat seine vielfältigen Briefwechsel sorgfältig gepflegt und gesammelt: in privater Hinsicht ragen die Briefe an Charlotte von Stein, in literaturgeschichtlicher Hinsicht der Briefwechsel mit Friedrich Schiller heraus.

Als literarische Gebrauchsform ist der Brief sehr offen und dadurch vielfältig in seiner Verwendung und Leistung. Er kann narrative, deskriptive, reflexive, appellative Funktion annehmen oder auch - sehr häufig - verschiedenen Funktionen bzw. Textpartien miteinander kombinieren. Die meisten Briefe sind bei genauerer Betrachtung "multifunktional". - Seit der Antike wird die Form des Briefes auch als Anlass oder Rahmen (um nicht zu sagen: als Vorwand) für philosophische oder literarische Erörterungen, also eigentlich für Abhandlungen oder Essays benutzt, die (über den möglicherweise bezeichneten Adressaten hinaus) an ein allgemeines Publikum gerichtet sind. Schon die so genannte Ars poetica des Horaz ist als Versepistel abgefasst und trägt den Titel Ad Pisones (an Vater und Sohn Piso). Im Jahr 1795 handelt Schiller Über die Ästhetische Erziehung des Menschen, und zwar in einer Reihe von Briefen. Hugo von Hofmannsthal geht mit Ein Brief (1902) noch einen Schritt weiter, wenn er seine Reflexion der modernen Sprachkrise dem englischen Renaissance-Autor Lord Chandos zuschreibt, sie also zugleich historisiert und fiktionalisiert.

Die literarhistorisch wichtigste Fiktionalisierung der Gebrauchsform Brief ist der Briefroman, der als Brieffolge eines einzigen Schreibers (wie Goethes Leiden des jungen Werthers, 1774) oder als Briefwechsel zweier oder mehrerer Personen (wie die auch für Goethe maßstabsetzenden Briefromane von Samuel Richardson) angelegt sein können.

Während der Briefroman schon im 19. und erst recht im 20. Jahrhundert als überholt erscheint; zeigt der authentische Privatbrief, insbesondere als Medium der persönlichen, historischen und ästhetischen Reflexion, eine erstaunliche Widerstandsfähigkeit gegenüber den modernen Kommunikationsmedien, die seine ursprüngliche Mitteilungsfunktion übernehmen. Philosophen, Politiker, Wissenschaftler - Friedrich Nietzsche, Karl Marx und Friedrich Engels, Otto von Bismarck, Sigmund Freud - geben sich und ihren Vertrauten brieflich Rechenschaft. Künstler - insbesondere auch Maler und Musiker - nutzen den Brief als flexible Form für ästhetische Erörterung und Selbstdeutung. Nicht alle, aber doch sehr viele Schriftsteller pflegen den privaten Brief und seine vielseitigen Möglichkeiten, sei es mit oder ohne Seitenblick auf Öffentlichkeit und Veröffentlichung. Jede Auswahl - von Gottfried Keller und Theodor Fontane über Rainer Maria Rilke, Thomas Mann und Franz Kafka bis zu Gottfried Benn und Paul Celan muss in dieser Hinsicht unvollständig bleiben.

©JZ

Sekundärliteratur