Wolfgang Iser

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* 22.7.1926 in Marienberg

Anglistischer Literaturwissenschaftler

Wolfgang Iser ist neben Hans Robert Jauß maßgeblicher Vertreter einer Literaturtheorie, die in den 1970er Jahren als Rezeptionsästhetik von Wissenschaftlern an der Universität Konstanz entwickelt wurde und weiten Einfluß gewann (Konstanzer Schule). Ebenso wie Jauß verneint Iser, daß eine in den literarischen Werken geschlossen vorliegende Wahrheit, ein bestimmbarer Sinn zu finden sei. Nicht jedoch die Möglichkeit von Sinn wird hinterfragt, sondern der Ort sowie die Art seiner Entstehung: Ästhetische Erfahrung entsteht der Theorie Isers zufolge im Fortgang der kommunikativen Interaktion zwischen Text und Leser; sie wird im buchstäblichen Sinn 'gemacht'.

Während Jauß vor allem die "Erwartungshorizonte" der unterschiedlichen historischen Lesergruppen als Rezeptionsgeschichte rekonstruiert, läuft Isers theoretischer Entwurf auf die Beantwortung der Frage hinaus, wie die Textstruktur die geistigen Aktivitäten des Lesers beim Lesen festlegt. Iser verschiebt den Fokus von der Inhaltsebene der Werke zur Ausdrucksebene hin: Nicht Bedeutungen, sondern die im Text angelegten Bedingungen der Bedeutungsherstellung durch den Leser müssen rekonstruiert werden, um ästhetische Wirkung theoretisch beschreiben zu können. Diese dem Text "eingezeichnete Leserrolle" nennt Iser den "impliziten Leser", der keinesfalls mit Ansprachen an den fiktiven Leser durch den Erzähler zu verwechseln ist.

Die Tätigkeit eines Lesers fiktionaler Texte ist vielmehr die "Konkretisation" von "Leerstellen" und "Unbestimmtheitsstellen" im Text: ein dialogischer Akt, der über das bloß imaginative Hinzufügen von ungenannten Figurenattributen (Augenfarbe o.ä.) hinausgeht. Der Leser reagiert dabei – oft unbewußt – auf das im Text enthaltene "Repertoire" von Normen (d.h. Sinnsystemen), Weltansichten und literarischen Bezugnahmen, auf die der Autor zurückgegriffen hat und die er in einen neuen Kontext – die von ihm geschaffene fiktionale Welt – stellt. Weiterhin kann und muß der Leser dabei Hypothesen über die Art der Verknüpfungen zwischen den unterschiedlichen Sichtweisen und Weltsichten herstellen, was durch die Text-"strategien" erleichtert und gleichzeitig gesteuert wird. Beispielsweise lassen sich außerliterarische Konventionen, die zueinander im Gegensatz stehen, im Gefüge der fiktiven Handlung auf verschiedene Figuren bzw. Perspektivträger verteilen. Durch den Wechsel der Figurenperspektiven im Textverlauf kann über die so ermöglichte 'gegenseitige Beobachtbarkeit' der Normen ihre Geltung für den Leser auch im Hinblick auf seine eigene Lebenswelt relativiert, das heißt als fragwürdig sichtbar gemacht werden. Iser zufolge basiert der "Akt des Lesens" auf dem Bedürfnis des Lesers nach einer konsistenten Sinngestalt, wobei der im Verlauf gebildete Sinn als "Hintergrund" eine Folie bildet, vor der ständig neue Erwartungen (Protentionen) an den weiteren Ereignisverlauf und Korrekturen (Retentionen) des zuvor gebildeten "Sinnhorizontes" gebildet werden. Anders gesagt: Der Leser ist dazu gezwungen, unter den potentiellen Bedeutungen einzelner Textelemente unter Rückgriff auf das bisher Erfahrene selektiv auszuwählen, was wiederum seine Lesehaltung für die folgende Lektüre bestimmt.

Schon vor der Formulierung seiner wirkungsästhetischen Theorie (Iser 1976) hat Iser zahlreiche Aufsätze veröffentlicht, in denen er eine Zunahme von Unbestimmtheitsstellen in der Literatur konstatiert (Iser 1972). Seit Anfang der 1980er konzentriert Iser sich zusehends auf die Etablierung des Forschungszweigs "Literarische Anthropologie", in dem angesichts einer universal erscheinenden Fiktionsbedürftigkeit des Menschen die Rolle und spezifische Leistung des Fiktiven für den Menschen untersucht wird. Isers (postmoderne) These (Iser 1991) ist dabei, daß die Literatur als freier Spielraum dasjenige Mittel ist, mit dem der Mensch den Konflikt zwischen dem Potential seiner Anlagen und den kulturellen Bedingungen seiner Zeit gefahrlos und zugleich konstruktiv erleben kann. Aufgrund dessen erscheint die letztendlich aufklärerisch-humanistische Vorstellung überholt, daß Literatur der (Aus-) Bildung einer geschlossenen Individualität diene. Dem setzt Iser das Konzept einer kontinuierlichen Selbsterweiterung als Vergewisserung der menschlichen Wandelbarkeit entgegen.

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Wichtige Schriften

Sekundärliteratur