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Psychoanalytische Literaturwissenschaft

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Die Anfänge der psychoanalytischen Literaturwissenschaft fallen mit der Entwicklung der Psychoanalyse um 1900 durch Sigmund Freud zusammen. Im Gegensatz zur Auffassung der Psychiatrie seiner Zeit geht er nicht mehr länger davon aus, daß es für nervliche Störungen organische Ursachen gibt, sondern führt sie auf unbewußte Wünsche, Konflikte und Traumata zurück. Eine Möglichkeit, diesem Unbewußten auf die Spur zu kommen, ist die Traumdeutung. In den Träumen, die seine Patienten ihm erzählen, versucht Freud, eine tieferliegende Problemstruktur zu erkennen. Dies kann zum Beispiel ein nicht verarbeiteter Ödipuskomplex sein. In seiner Traumdeutung interpretiert Freud dann auch zum ersten Mal einen literarischen Text - Shakespeares Hamlet - psychoanalytisch. Literarische Texte werden als "Tagträume" den Träumen prinzipiell gleichgesetzt. Er deutet Hamlets Zögern, den Mörder seines Vaters zu töten, als Ausdruck des unbewußten Todeswunsches gegen den Vater, den Hamlet in der ödipalen Phase, als er seine Mutter begehrte, verspürte und noch nicht überwunden hat. Freud analysiert immer wieder literarische Werke, oft mit der Absicht, Teile seiner Theorie zu verdeutlichen. Hier ist er direktes Vorbild für eine psychoanalytisch orientierten Literaturwissenschaft, die mit den Werkzeugen der Psychoanalyse allerdings nicht nur literarische Texte, sondern auch Autoren und Leser verstehen will. Die Analyse der psychischen Verfassung des Autors wird möglich, weil die Werke ja als eine bestimmte Form des Tagtraums aufgefaßt werden. Und die Rezeption rückt insofern in das Zentrum des Interesses, als die emotionalen Reaktionen der Leser auf deren unterschiedliche seelische Entwicklung zurückgeführt werden können. Ein Hauptvertreter dieser psychologischen Rezeptionstheorie ist Norman N. Holland.

Natürlich blieb diese an Freud orientierte psychoanalytische Methode nicht unkritisiert. Der Textinterpretation wirft man vor, die Komplexität eines literarischen Kunstwerks aus dem Blick zu verlieren und die heterogensten Geschichten, Handlungen und Personen immer wieder auf dieselben psychologischen Grundstrukturen zurückzuführen. Und die Analyse der Autorpsyche erscheint problematisch, weil eine Erzählung, ein Roman oder ein Drama mehr sind als halbbewußte Tagträume. Diese Texte sind bewußt erschaffen, bearbeitet und konstruiert worden und stehen mit der ursprünglichen Phantasie des Autors nur in einem mittelbaren Verhältnis.

Neben diesen auf Freud aufbauenden literaturwissenschaftlichen Ansätzen gibt es auch Richtungen, die sich auf seinen Schüler Carl Gustav Jung beziehen oder auf den Poststrukturalisten Jacques Lacan. Jung sieht den literarischen Text als Möglichkeit, verschüttete Archetypen, das sogenannte kollektive Unbewußte, dem Leser wieder zugänglich zu machen. Er geht davon aus, daß bestimmte archaische Strukturen und Vorstellungen die Zeit zwar überdauern, aber für den Menschen nicht immer zugänglich, sondern vom Zeitgeist gleichsam verschüttet sind. Dies berge die Gefahr einer Entfremdung von den eigentlichen Wurzeln der Existenz. Um dieser Entfremdung zu entgehen, wendet sich der einzelne an den Dichter, der jetzt zum Erzieher wird, indem er "sozusagen jedem ermöglicht [...], wieder den Zugang zu den tiefsten Quellen des Lebens zu finden". (S.38)

Eine breite Aufnahme fanden psychoanalytische Ansätze auch in den Reihen der feministischen LiteraturwissenschaftlerInnen. Kein Wunder, wenn man an die spezifischen Frauen- und Männerbilder der Psychoanalyse denkt. Hier sind vor allem Simone de Beauvoir und Kate Millet zu nennen, die sich mit Freud kritisch auseinandersetzten, sowie Lucy Irigaray und Julie Kristeva, die stellvertretend für die neue französische Schule stehen und über Freud hinaus Jacques Lacan in den Blick nehmen.

©rein

Quelle

  • Carl Gustav Jung: Über die Beziehung der analytischen Psychologie zum literarischen Kunstwerk [1920], in: Bernd Urban (Hg.): Psychoanalyse und Literaturwissenschaft. Texte zur Geschichte ihrer Beziehung, Tübingen 1973, S.18-39.

Sekundärliteratur

  • T. Eagleton: Einführung in die Literaturtheorie, Stuttgart 1992.
  • H. Gallas: Psychoanalytische Positionen, in: H. Brackert/ J. Stückrath (Hg.): Literaturwissenschaft. Ein Grundkurs, Reinbek bei Hamburg 1992, S.593-606.
  • L. Rühling: Psychologische Zugänge, in: H. L. Arnold/ H. Detering (Hg.): Grundzüge der Literaturwissenschaft, München 1996, S.479-497.