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Interpretation

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Umgangssprachlich wird der Begriff  'Interpretation' für die sprachliche, theatralische oder musikalische Präsentation eines Kunstwerks verwendet. In der Terminologie der Kulturwissenschaften bezeichnet er ein bestimmtes Verfahren: die methodisch reflektierte Auslegung oder Deutung eines sprachlichen Textes, aber auch anderer sinntragender Strukturen wie z.B. von Gesten, Handlungen, Bild- und Tonwerken, selbst von historischen Verläufen und sozialen Strukturen. Die - nicht immer offengelegte - Grundannahme dabei ist, dass eine solche Struktur einen bestimmten 'Gehalt', eine 'Aussage' oder 'Bedeutung' zwar enthalte, aber nicht unmittelbar oder deutlich genug auspreche. Die Interpretation wäre demnach ein rational begründetes und kontrollierbares Verfahren zur Verdeutlichung dieses Gehalts und der ihn tragenden Zeichenstrukturen. Insofern sie selbst (zumeist) wieder die Sprache als Medium der Auslegung benutzt, produziert sie schließlich auch eine bestimmte Textsorte, die - nicht nur in der Literaturwissenschaft - eben als 'Interpretation' (vom kurzen Aufsatz bis zur großen Monographie) bekannt ist.

In diesem Sinne prägt die Werk-Interpretation die Arbeitsweise der Literaturwissenschaft und von ihr abgeleiteter Institutionen, wie z.B. den schulischen Literaturunterricht, teilweise auch die Literaturkritik. Zugleich steht sie seit langem unter grundsätzlichen kritischen Vorbehalten. Einer ist der der Willkür: Das Werk hat ja keine Möglichkeit, einen einseitigen oder ganz unsachgemäßen interpretatorischen Zugriff abzuwehren oder zu korrigieren. Deshalb dichtete schon Goethe ironisch: "Im Auslegen seid frisch und munter/legt ihr's nicht aus, so legt was unter!" Dahinter erhebt sich die Frage, warum Werke, die selbst sprachlicher Natur sind und 'etwas aussagen', überhaupt von einem Interpreten 'zum Sprechen gebracht' werden müssen. Der Philosoph Odo Marquard hat dies zu der provokativen Formel zugespitzt, die Interpretation sei "die Kunst, aus einem Text herauszukriegen, was nicht drinsteht: wozu, wenn man doch den Text hat - brauchte man sie sonst?" Vielleicht braucht man sie deshalb, weil es beim Interpretieren nicht so sehr um Erkenntnis, als vielmehr um die Interpretationshoheit, also um einen Machteffekt handelt. Diese Behauptung könnte man anhand der päpstlichen Dogmen ebenso diskutieren wie anhand des vom Lehrer korrigierten und benoteten Interpretations-Aufsatzes im Deutschunterricht.

Gegen solche Einwände stellen Verteidiger der Interpretation die Forderung, sie müsse zunächst plausibel und konsistent sein, d.h. sich auf möglichst viele Beobachtungen am Text stützen und sie möglichst widerspruchsfrei verknüpfen. Dass eine solche Interpretation dennoch stets selektiv oder perspektivisch bleibe, indem sie mögliche andere Beobachtungen oder Verknüpfungen ausschließt, ist unbestritten. Im "Wettstreit" verschiedener Interpretationen (Paul Ricoeur) werde solche Einseitigkeit relativiert und die Erkenntnis der Komplexität eines Werkes wie in einer Spiralbewegung (Hermeneutischer Zirkel/Hermeneutische Spirale) vorwärtsgebracht. Speziell in der Literaturwissenschaft kann dabei, wie Karlheinz Stierle u.a. ausführen, die Kombination von sinnverstehenden und von analytischen Verfahren, also von Hermeneutik und Strukturalismus, produktiv gemacht werden.

Sowohl der genannte 'Wettstreit der Interpretationen' als auch die strukturanalytische Fundierung der Interpretation tragen zur Überwindung einer spezifisch deutschen Tradition bei, die seit dem Philosophen Wilhelm Dilthey die sogenannte Einfühlung ins Zentrum allen Interpretierens stellte und in der Werkimmanenten Interpretation der 1950er Jahre, etwa bei Emil Staiger, auch in der Germanistik schulbildend wurde.

Während eine textanalytisch fundierte "Hermeneutik der Entfaltung" (Uwe Japp) im Alltag der heutigen Literaturwissenschaft ohne Zweifel ihren Platz behält, werden auf der Grundlage neuerer (und sehr gegensätzlich orientierter) Literaturtheorien (Poststrukturalismus, Empirische Literaturwissenschaft) auch weiterhin sehr grundsätzliche Argumente zu eine 'Kritik der Interpretation' vorgetragen.

© JV

Sekundärliteratur

  • U. Japp: Hermeneutik. Der theoretische Diskurs, die Literatur und die Konstruktion ihres Zusammenhangs in den philologischen Wissenschaften, München 1977.
  • J. Schutte: Einführung in die Literaturinterpretation, Stuttgart 1985.
  • A. Spree: Kritik der Interpretation. Analytische Untersuchungen zu interpretationskritischen Literaturtheorien, Paderborn 1995.