Startseite Index

Sturm und Drang

Achtung, öffnet in einem neuen Fenster. PDFDruckenE-Mail

Die Epoche des "Sturm und Drang", deren Beginn zumeist auf das Jahr 1769 datiert wird (in diesem Jahr erscheint Johann Gottfried Herders Journal meiner Reise im Jahre 1769), ist eine auf Deutschland beschränkte literarisch-weltanschauliche Bewegung und besitzt keine Entsprechung in Musik, Malerei oder Architektur. Der Begriff war schon bald nach 1770 gebräuchlich, also vor der Veröffentlichung von Friedrich Maximilian Klingers gleichnamigen Drama (1777), das später der ganzen Epoche ihren Namen gab.
Traditionellerweise wurde der Sturm und Drang durch den Gegensatz Rationalismus - Irrationalismus als Gegenbewegung zur vorangehenden Epoche der Aufklärung definiert. In der aktuellen Forschung wird dagegen das spannungsvolle Verhältnis von Aufklärung und Sturm und Drang betont, ein Festhalten der Stürmer und Dränger an Idealen der Aufklärung einerseits und eine radikale Kritik an aufklärerischem Gedankengut andererseits. Gegenüber dem aufklärerischen Konzept allgemein menschlicher Rationalität betont der Sturm und Drang insbesondere das Partikular-Menschliche: die Individualität des Einzelnen, die Sinnlichkeit, die Totalität von Herz und Geist, von Vernunft, Phantasie und Gefühl.

Der ästhetische Zentralbegriff des Sturm und Drang: das Genie, theoretisch ausgearbeitet in Herders Shakespear (1773), Johann Wolfgang von Goethes Zum Shakespeare Tag (1771) oder Jakob Michael Reinhold LenzAnmerkungen übers Theater (1774), weist über die Kunst hinaus auf ein neues Lebensverständnis jenseits ständischer und traditioneller Ordnungen. Gesellschaftspolitisch an die zunehmende Emanzipation des Bürgertums, literatursoziologisch an die Veränderungen des ‘literarischen Marktes’, ästhetisch an die Kritik der traditionellen Regelpoetik gekoppelt, konzipiert sich das Genie als naturgegebene ‘schöpferische Kraft’, die sich durch Spontaneität, Intensität und Originalität seiner Empfindungen auszeichnet. Damit steht es in enger Verbindung zum weltanschaulichen Zentralbegriff des Sturm und Drang: zur Natur. Der die Natur ‘nachahmende’ Künstler ist keiner, der Natur wiederholt (‘natura naturata’), sondern der analog zur Natur produziert (‘natura naturans’). Naturnachnahmung heißt, selbst schöpferisch zu werden.

Diese ‘schöpferische Kraft’ wird in den literarischen Gattungen auf unterschiedliche Weise realisiert. Die Dramen gestalten vor allem soziale Konflikte zwischen einem vereinzelten Individuum und der Gesellschaft. Zu den wichtigen Beispielen gehören Goethes Götz von Berlichingen (1771), Friedrich Schillers Die Räuber (1776) und Klingers Die Zwillinge (1776). In der Prosa (z.B. Goethes Die Leiden des jungen Werther [1774], Jakob Michael Reinhold Lenz Der Waldbruder [1776]) wird ein reich entfaltete Subjektivität vorgeführt, die aber an der Realität zerbrechen kann. In der Lyrik steht das Verhältnis des lyrischen Ich zu der ihn umgebenden, pantheistisch (Pantheismus = Lehre, in der Gott und Welt identisch sind) gedachten Natur zur Diskussion; zu nennen sind hier insbesondere Goethes frühe Gedichte, zum Beispiel Mailied (1771), Prometheus (1773) oder Ganymed (1773).

Die Grenzen und die Gefährdungen des Genies kommen in diesen Texten zum Ausdruck. Der Selbstmord Werthers, das Scheitern Götz von Berlichingens oder Karl Moors (in Schillers Die Räuber) sind nicht zuletzt Resultat einer gesellschaftlichen Situation, in der sich die Individualitäts- und Geniegedanken der durchweg jungen, bürgerlichen Stürmer und Dränger nur im literarisch-kulturellen Bereich durchsetzen, im politischen und ökonomischen Bereich jedoch keinerlei Basis finden.

© CH

Sekundärliteratur

  • A. Huyssen: Drama des Sturm und Drang. Kommentar zu einer Epoche, München 1980.
  • W. Hinck (Hrsg.): Sturm und Drang. Ein literaturwissenschaftliches Studienbuch, Kornberg/Ts. 1978
  • B. Plachta (Hrsg.): Sturm und Drang: geistiger Aufbruch 1770 - 1790 im Spiegel der Literatur, Tübingen 1997.