Emil Staiger: Grundbegriffe der Poetik (zur Lyrik) (1946)

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In seiner 1946 publizierten Untersuchung Grundbegriffe der Poetik versucht Staiger eine neue, anthropologische Bestimmung nicht so sehr der Lyrik, als vielmehr des Lyrischen. Sich von den Überlegungen Hegels absetzend, definiert Staiger das "lyrische Dasein" als einen spezifischen menschlichen Zustand, in dem die Subjekt-Objekt Trennung aufgehoben sei. Damit wendet er sich gegen das traditionelle Verständnis von Lyrik als rein subjektivem Ausdruck. Vielmehr erblickt Staiger im Lyrischen eine Verfaßtheit, in der das Subjekt die Grenzen seiner Identität überschreitet und für einen Augenblick im Dasein aufgeht - weshalb weder Subjektivität noch Objektivität angemessene Kategorien der Beschreibung sind.

Der Gegensatz [zwischen Lyrik und Epik] wird aber auch noch in einem anderen Sinne ausgelegt. Der Epiker stelle die Außenwelt, der Lyriker seine Innenwelt dar. Lyrische Dichtung sei innerlich. Was heißt das? Im Epischen besteht, wie sich zeigen wird ein Gegenüber: hier das unbewegte Gemüt des Erzählers, dort das bewegte Geschehen. Was soll aber 'innerlich' besagen? [...] Die Rede von 'innen' und 'außen' entsteht aus der Guckkastenvorstellung vom Wesen des Menschen: Die Seele haust im Körper und läßt durch die Sinne die Außenwelt, zumal durch die Augen die Bilder herein. Sosehr sich heute jedermann gegen diese Vorstellung ereifert, sie wurzelt tief in unserem Geist und läßt sich kaum je ganz überwinden. Der Anblick des Menschen, der vor uns wandelt und körperlich scharf umrissen ist, aus dessen Augen die Seele leuchtet, legt sie uns immer wieder nahe. Und freilich, ganz sinnlos ist sie nicht. Daß wir durch den Körper von der Außenwelt geschieden sind, ist eine Erfahrung, die zu einer bestimmten – der epischen – Stufe gehört. Im Epischen stellt sich der Körper dar. Deshalb gehen uns im epischen Dasein die Dinge als Außenwelt auf. Im lyrischen Dasein gilt das nicht. Da gibt es noch keine Gegenstände. Weil es aber noch keine Gegenstände, noch keine Objekte gibt, gibt es hier auch noch kein Subjekt. Und jetzt erkennen wir den Fehler, der die Begriffsverwirrung verschuldet. Wenn lyrische Dichtung nicht objektiv ist, so darf sie darum doch nicht subjektiv heißen. Und wenn sie nicht Außenwelt darstellt, stellt sie dennoch auch keine Innenwelt dar. Sondern 'innen' und 'außen', 'subjektiv'und 'objektiv' sind in der lyrischen Poesie überhaupt nicht geschieden. (S. 44 f.)

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