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Das in der zweiten Hälfte des 8. Jahrhunderts v. Chr. entstandene Epos Ilias ist das früheste Zeugnis der griechischen und damit der abendländischen Dichtung überhaupt. Es besteht aus rund 15 500 Hexameterversen und ist in 24 Gesänge unterteilt. Die Handlung geht zurück auf den zehnjährigen Krieg zwischen griechischen Belagerern und troischen Verteidigern um die Stadt Troja (von deren zweitem Namen "Ilion" der Titel abgeleitet ist), der um 1200 v. Chr. mit der Zerstörung der Stadt endete. Am Anfang der Ilias, die nur einen Ausschnitt der Auseinandersetzungen während des letzten Kriegsjahres darstellt, steht ein Streit zwischen zwei Angehörigen des griechischen Heeres, nämlich zwischen Achilleus, dem besten Kämpfer der Griechen, und Agamemnon, ihrem obersten Heerführer. Dieser Streit endet damit, daß Achilleus erzürnt beschließt, an dem bevorstehenden Feldzug gegen Troja nicht teilzunehmen. Bereits im Musenanruf des ersten Verses der Ilias wird der Zorn des Achilleus als Leitmotiv beschworen: "Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus". (I, 1) Achills Mutter, die Meeresgöttin Thetis, bittet Zeus um Genugtuung für ihren Sohn und Zeus beschließt, im Kampf um Troja die Troer so lange zu unterstützen, bis das griechische Heer für die Beleidigung des Achilleus gesühnt hat. Diese Einmischung der Götter in Belange der Menschen und Heroen, die Steuerung der Ereignisse durch die Bewohner des Olymp, ist typisch für die Ilias. Insbesondere Athena auf der Seite der Griechen und Apollo auf der Seite der Troer greifen immer wieder direkt in das Geschehen ein und verleihen Menschen übermenschliche Kräfte, etwa wenn es dem Troerführer Hektor nur mit der Hilfe Apollons gelingt, den auf Troja drängenden Patroklos aufzuhalten und zu töten und damit den Fall Trojas für den Moment abzuwenden. Als Achill erfährt, daß sein Freund Patroklos im Kampf gegen die Troer gefallen ist, wendet sich sein Zorn von Agamemnon ab auf die Mörder seines Freundes und Achill beteiligt sich nun, um seinen Freund zu rächen, doch an den Kampfhandlungen. Damit aber ist das Ende der Troer besiegelt: Achill besiegt und tötet Hektor. Als er sich darüber hinaus auch an dem Leichnam des Feindes grausam rächen will, greifen die Götter ein letztes Mal ein und Apollon verhindert die entwürdigende Schändung. Mit den Leichenspielen zu Ehren Patroklos' und dem Leichenzug der Troer vom Lager der Griechen zurück in ihre Stadt endet die Ilias.

Die Ilias ist ein Werk des Übergangs von der Oralität zur Literalität: in ihr finden sich viele formale Merkmale der Rhapsodentradition, also mündlich vorgetragener Geschichten. Vorgeprägte Muster und wiederkehrende Formeln hatten in den mündlichen Erzählungen die Funktion, dem Vortragenden das Memorieren der Texte zu erleichtern, sie bilden aber auch ein wesentliches Strukturelement der Ilias. Jahrhundertealt und bis heute nicht endgültig geklärt ist die damit in Zusammenhang stehende sogenannte ‚homerische Frage', nämlich die Frage danach, ob die Ilias wirklich von einem einzigen Verfasser, Homer, geschrieben wurde, oder ob sie aus verschiedenen rhapsodisch überlieferten Erzählungen des troischen Mythos' besteht, die von unterschiedlichen Verfassern aufgezeichnet und erst nachträglich zu einem Ganzen gefügt wurden.

In Deutschland setzte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der allgemeinen Rückbesinnung auf die griechische Antike eine intensive Beschäftigung mit den homerischen Epen ein. Der Göttinger Philologe Friedrich August Wolf bezog 1795 in seinen berühmten und folgenreichen Prolegomena ad Homerum zur ‚homerischen Frage' Stellung und vertrat die im folgenden kontrovers diskutierte These, die Ilias sei nicht von Homer verfaßt - den Schriftsteller Homer habe es nie gegeben, er sei vielmehr eine bloße Fiktion der Nachwelt. Johann Heinrich Voß schließlich förderte eine breitere literarische Rezeption der Ilias und der Odyssee durch seine kunstvollen, mittlerweile selbst zu Klassikern gewordenen Übersetzungen (Odyssee 1781, Ilias und Odyssee 1793).

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Quelle

  • Homer: Ilias. Odyssee, übers. v. J.H. Voß, Frankfurt/M. 1990.

Sekundärliteratur

  • J. Latacz: Homer. Der erste Dichter des Abendlandes, 2. Aufl., München 1989.
  • K. Reinhardt: Die Ilias und ihre Dichter, hg. v. U. Hölscher, Göttingen 1961.
  • W. Schadewaldt: Der Aufbau der Ilias. Strukturen und Konzeptionen, Frankfurt/M. 1975.