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Johann Wolfgang Goethe: West-östlicher Divan (1819)

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Der Gedichtzyklus West-östlicher Divan (1819) gehört zum Spätwerk Goethes. Ab 1815 versenkt sich der Dichter immer mehr in die fremden Literaturen, insbesondere in die orientalischen. Schon 1814 hatte er sich der altpersischen Dichtung gewidmet, besonders dem Divan Hafis' (14.Jahrhundert), den Goethe in der Übersetzung Josef v. Hammers kannte. Daneben liest er Reisebeschreibungen des 17. Jahrhunderts: Della Valle, Olearius, Tavernier und Chardin - Gelehrte, die den fernen Orient darstellen.

Das neue Interesse, das Goethe selbst programmatisch als "Hegire" (arab. higra: Migration) bezeichnet, bereichert seinen Begriff einer "Weltliteratur": Nationalliteratur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit, und jeder muß jetzt dazu wirken, diese Epoche zu beschleunigen. In der Tat bedeutet west-östlich: deutsch-orientalisch, lateinisch-arabisch, christlich-mohammedanisch. Mit dieser weltanschaulichen Auffassung stimmt auch die Breite der Gattungen, Motive und Formen des Divan überein: Spruchdichtungen (Buch der Betrachtungen, Buch der Sprüche), Invektiven (Buch des Unmuts), historische Anspielungen (Buch Timur) und Parabeln als "Übersicht des Weltwesens" (Buch der Parabeln) wechseln sich dort ab. Ganz eigentümlich und erstmalig ist aber, wie das Arabeskenspiel von geschichtlichen Studien, Übersetzung und Aneignung alter Poesie sich ineinander verwebt. Lehr- und mystische Dichtungen, Rätsel, Balladen vermischen sich kreisförmig mit den rein lyrischen Strophen des Buchs Suleika, wo Goethe die ganze Spannweite der erotischen Lyrik ausbreitet.

Wichtig ist, auf die ganz besondere Entstehungsgeschichte dieses Buchs hinzuweisen. Der literarische Aufbruch in den "reinen Osten", in die "Urheimat der Menschheit", verdankt sich auf der existentiellen Ebene dem Impuls einer (deutschen) Liebeserfahrung. Vom 12. August bis zum 18. September 1815 wohnt Goethe bei dem Ehepaar Willemer, zumeist auf deren Landgut, der Gerbermühle am Main. Der Mann ist ein älterer Bankier, der vor kurzem Marianne, eine lebenssprühende junge Frau geheiratet hat. Es ist eine Reihe von festlichen Tagen für den alten Dichter. Sein Geburtstag - 28. August - wird schöner gefeiert, als er es bisher je erlebt hat. Abends singt Marianne zur Gitarre und Goethe liest Liebesgedichte an Jussuf und Suleika vor - das Liebespaar in seiner west-östlicher Liedersammlung, die er indessen fleißig vermehrt. Später nennt er den Liebhaber Hatem.

Goethe entgeht es nicht, daß Marianne neben anderen Gaben auch ein poetisches Talent hat. Und schreibt entzückt: "Aber daß du /Feurige Jugendblicke mir schickst / […] Das sollen meine Lieder preisen, / sollst mir ewig Suleika heissen" (Einladung). Nun knüpft die junge Frau Willemer an einige Liebesgedichte Goethes an, und antwortet ihm als Suleika: "Hochbeglückt in deiner Liebe…". Es ist ein chiffriertes Liebespiel, versteckt in Zitate des persischen Dichters (vgl. dazu Vollmondnacht). So ergibt sich vor allem im Buch der Liebe und Buch Suleika ein zauberhaftes Geflecht von intimen, wechselseitig aufeinander verweisenden Motiven, die der Freundeskreis nicht entziffern kann. Die Töne der Liebeslyrik reichen vom Anakreontisch-Scherzhaften (An vollen Büschelzweigen) bis zum Mystisch-Kosmischen (Wiederfinden). Ein Zwiegespräch, das mit Goethes Rückkehr nach Weimar aufhört. Er muß fliehen. Der Hof, seine Frau Christiane warten auf ihn. Briefe und Tagebücher zeigen nun seine Wehmut. Direkt an Marianne darf er nicht schreiben, er muß sich förmlich getarnt an das Ehepaar Willemer wenden: "So verlebe ich nun schon bald ein Vierteljahr, ohne mir fremd und ohne mir selbst zu sein". Goethe versenkt sich in die Arbeit. Sein häufiges Diktum: Bevor ein Werk in der Welt sei, habe keiner eine Ahnung davon, erweist sich abermals als wahr. September 1816, aus dem Tagebuch: "Divan in [12] Bücher eingeteilt". Er lebt "in der Erinnerung" und sucht die "Erfahrungen zum Besten zu leiten" (21. Oktober an Knebel). Aus "Entsagung" entsteht nun eine gewaltige historische Reflexion über den dichterischen Zyklus: Die Noten und Abhandlungen begleiten die Publikation des Divan (1819). Das erste Exemplar geht an das Ehepaar Willemers.

Was den Divan heute noch nicht ganz durchschaubar macht, ist dieses höchst raffinierte Versteckspiel, das persönliche Erlebnisse in eine fremdartige und fast nur der Gelehrsamkeit zugängliche Maskierung verhüllt. Dazu kommt, daß die Noten keineswegs den Kommentar zu den Versen enthalten. Goethe erläutert zwar einzelne Ausdrücke und Anspielungen, vermeidet es aber, auf das eigentlich Rätselvolle einzugehen. Man nehme das Gedicht Dir zu eröffnen, das im Kapitel Chiffer erscheint: Es ist die Umarbeitung eines Briefes von Marianne, die Hafis-Hammer-Passagen verwendet hatte. Wer spricht hier von wem? Rätsel finden sich übrigens auch im Nachlaß von Marianne. Das sollte auch so bleiben, weil das Maskenspiel dem Wesen der Lyrik überhaupt gemäß ist. Mit einem Vers aus dem Divan: "Manchmal ist ein Wort vonnöten, / Oft ist's besser, daß man schweigt".

© AC

Quelle

  • Johann Wolfgang von Goethe: West-östlicher Divan, in: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe, Bd.2, München 1981.