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Eine hermeneutische Grundregel besagt, daß das Ganze aus dem Einzelnen und das Einzelne aus dem Ganzen verstanden werden muss. Dieses Prinzip wird traditionell als hermeneutischer Zirkel bezeichnet. Es ist zurückzuführen auf die antike Rhetorik, genauer auf den Topos: Es kann von den Teilen auf das Ganze geschlossen werden.

Die Autoren der philosophischen Hermeneutik definieren den Charakter und die Reichweite der Zirkelbewegung unterschiedlich. Schleiermacher sieht den hermeneutischen Zirkel sowohl in der grammatischen Interpretation (z.B. zwischen Wort und Satz, Satz und Absatz, Absatz und Textganzem usw.) als auch in der psychologischen Interpretation (zwischen dem Text als Ausdruck bzw. Teil des Seelenlebens des Autors und dem Ganzen seines Seelenlebens) gegeben. Für Gadamer beschreibt der Zirkel das Verstehen als Aneignung der Überlieferung durch den Interpreten, der sich zunächst in einer Position zwischen Fremdheit und Vertrautheit befindet. Die Vertrautheit, die sich aus seiner kulturellen Zugehörigkeit ergibt, erlaubt es ihm, den Sinn des Textes zu antizipieren, um dieses 'Vorurteil' mit zunehmendem Verständnis des Textes jeweils zu korrigieren.

Jürgen Habermas möchte die Zirkelbewegung um die ideologiekritische Komponente erweitert wissen. Für ihn verläuft sie nicht einfach vom Ganzen zum Teil und zurück zum Ganzen des Textes, sondern von einem vorläufigen, sprachlich-grammatischen Verständnis über das Problem 'dunkler Stellen' zur sachlichen (historisch-empirischen) Klärung und schließlich zu einem komplexeren Textverstehen. Nach Habermas berücksichtigt die ideologiekritische Interpretation sowohl die Zeitgebundenheit eines Textes als auch seine (potentielle) Aktualität. Das kritische Verstehen historisch ferner Texte liefert demnach nicht lediglich Auskunft über die Vergangenheit, sondern auch über die Gegenwart. Diese dialektische Erfahrung ist gemeint, wenn Habermas von der kritischen Selbstreflexion spricht, die durch Hermeneutik und Ideologiekritik vorangebracht werde.

Der Literaturwissenschaftler Karlheinz Stierle kritisiert die 'Methodenfeindlichkeit' der gegenwärtigen, durch Gadamer geprägten Hermeneutik. Für ihn ist es unerlässlich, den hermeneutischen Zirkel zu einem 'struktural-hermeneutischen Zirkel' zu erweitern. In einem solchen Zirkel käme sowohl die methodenbezogene Erfassung der Struktur als auch die lebensweltliche Erfahrung literarischer Werke zur Geltung. Damit schlösse sich auch die Kluft zwischen sogenannter wissenschaftlicher Erkenntnis und ästhetischem Genuss.

Jürgen Bolten schließlich plädiert für den Begriff der 'hermeneutischen Spirale', den er für angemessener hält als den des 'hermeneutischen Zirkels'. Im Grunde, so Bolten, werde doch der Vorgriff auf das Ganze des Textes durch ein genaueres Verständnis des Einzelnen immerzu korrigiert. Der Verstehensprozess führe genaugenommen stets zu einem Verstehenszuwachs und sei damit kein zirkuläres Zurückkehren zu seinem Ausgangspunkt.

Um den Zuwachs an Verständnis im Rahmen der hermeneutischen Spirale zu forcieren fordert Bolten, die Entscheidung für philologisches oder literarisches oder wirkungsgeschichtliches Verstehen zugunsten eines integrativen Verstehens aufzuheben:

Einen Text verstehen heißt demzufolge, Merkmale der 'Textstruktur' bzw. des '-inhaltes' und der 'Textproduktion' unter Einbeziehung der 'Text-' und 'Rezeptionsgeschichte' sowie der Reflexion des eigenen 'Interpretationsstandpunktes' im Sinne eines wechselseitigen Begründungsverhältnisses zu begreifen. Daß es dabei weder 'falsche' noch 'richtige', sondern allenfalls mehr oder minder angemessene Interpretationen geben kann, folgt aus der [...] Geschichtlichkeit der Verstehenskonstituenten und der damit zusammenhängenden Unabschließbarkeit der hermeneutischen Spirale. [...] Der Spiralbewegung entsprechend, unterliegt die Interpretation hinsichtlich ihrer Hypothesenbildung diesbezüglich einem Mechanismus der Selbstkorrektur. Daß dieses Verfahren stets dem roten Faden eines spezifischen Erkenntnisinteresses folgen und man dementsprechend bei der Behandlung der Interpretationsaspekte nicht methodenpluralistisch-additiv, sondern durchaus selektiv vorgehen sollte, versteht sich von selbst.(S. 362 f.)

© DS

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