Hans Robert Jauß

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* 12.12. 1921, Heidelberg
† 01.03. 1997, Konstanz

Romanistischer Literaturwissenschaftler

Mit seiner Antrittsvorlesung an der Universität Konstanz im Jahr 1967 leitet Jauß unter dem Titel Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft einen bedeutenden Perspektivenwechsel innerhalb der literaturwissenschaftlichen Forschung ein, deren Programm schnell mit dem Schlagwort Rezeptionsästhetik versehen wurde und auf internationaler Ebene Diskussion und Anregungen gestiftet hat. Jauß fordert die Abwendung von einer werkorientierten Interpretation, welche das einzelne Werk von seinem historischen Kontext abgelöst betrachtet, sowie von einer positivistisch orientierten Literaturgeschichtsschreibung, die den meist vieldeutigen Text auf eine, oft an der Autorenbiographie orientierte Bedeutung verengt.

Dagegen beruft sich Jauß auf die philosophische Hermeneutik vor allem von Hans-Georg Gadamer. Er betont die Seite des Lesers, d.h. die dialogischen Erfahrungen der historischen Leser mit dem Text, die das gleiche Werk aufgrund des geschichtlichen Wandels ihres eigenen Vorverständnisses gegenüber Literatur (Erwartungshorizont) immer wieder anders lesen, neuen Sinn nicht finden, sondern verstehend herstellen. Die Vorstellung eines im Text enthaltenen, eindeutig bestimmbaren Sinns wird vor diesem Hintergrund unhaltbar.

Dokumente solcher Leseerfahrungen sind besonders in der Literaturkritik und - als produktive Rezeption - in neuen Fassungen eines Werkes durch spätere Autoren zu finden, wobei die Rezeptionsgeschichte vor allem die Vereinnahmung des Werkes unter die jeweils herrschenden Normen dokumentiert. Literaturgeschichte wechselt bei Jauß von der Werkgeschichte zur Wirkungsgeschichte, anstelle der Übernahme eines kanonisierten Erbes soll dessen ständige Neuaneignung rekonstruiert werden. In Ergänzung dieser neuorientierten Literaturgeschichtsschreibung ändert sich auch die Perspektive auf das einzelne Werk: Aus seiner Struktur soll das Gefüge der Konventionen und Erwartungen der Leser rekonstruiert werden, auf deren (implizite) Fragen das Werk eine (bestätigende oder negative) Antwort gewesen war.

Neben einer Vielzahl von Aufsätzen im Rahmen des hier skizzierten Programms und der von ihm mitbegründeten interdisziplinären Kolloquienreihe Poetik und Hermeneutik ist Jauß unter dem Stichwort "ästhetische Erfahrung" zum maßgeblichen Vertreter einer Theorie der literarischen Hermeneutik geworden, in der er zunehmend auch affirmative Erfahrungsmöglichkeiten wieder aufgreift, die beispielsweise in der kritischen Theorie Theodor W. Adornos zur literarischen Moderne keinen Platz finden durften. Diese Wendung äußert sich auch in einer offenen Haltung gegenüber postmoderner Literatur.

Genußbildung tritt damit neben die Erzeugung kritischer Distanz; eine dritte Aufgabe in der ästhetischen Kommunikation zwischen Text und Leser stellt der Horizontwandel dar: Die Normen des Lesers, anhand derer er nicht nur literarische Texte beurteilt, werden aufgrund dieser Fremderfahrung erschüttert und ändern sich infolgedessen. Jauß' literarische Hermeneutik dient der Bewältigung von Differenz und Diskontinuität, schlägt 'Brücken' zu dem, was sich zeitlich oder kulturell nicht (mehr) von selbst versteht. Mit diesem hermeneutischen Wohlwollen (im Sinne eines Verstehen-Wollens) steht Jauß im radikalen Kontrast zur literarischen Dekonstruktion, deren Vertreter sich gerade um das Herausarbeiten derjenigen Differenzen bemühen, die ein Verstehen unmöglich machen.

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Wichtige Schriften

Sekundärliteratur