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Novelle

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Die Novelle ist eine kürzere Erzählung, die durch prägnante Struktur, dezidierten Kunstwillen und einen strengen Aufbau gekennzeichnet ist. Der Begriff stammt aus dem Italienischen und ist erst seit dem 18. Jahrhundert im Deutschen gebräuchlich. Ohne einen Vorläufer in der Antike bildet sie eine der ersten modernen literarischen Formen. Ihre Entstehung ist eng mit der sich emanzipierenden Bürgerwelt verbunden. Die Gesellschaft stellt sich in der Novelle selbst dar. Traditionellerweise lauscht das Publikum in einer Rahmenerzählung einer Geschichte, die ein fiktiver Erzähler aus seiner Mitte in Form der Binnenerzählung vorträgt. (vgl. Stimme, Metafiktionalität) Diese Rahmenstruktur trägt wesentlich zur geschlossenen Form der Novelle bei, aber auch zu einer spezifischen Perspektive, da das Erzählte aus der Distanz objektiviert erscheint und auch belehrend reflektiert werden kann. Diese Geschlossenheit wird aber bei rahmenlosen Novellen gewahrt. Formal sind hier ebenfalls eine erzählerische Einsträngigkeit, das Fehlen abschweifender Episoden und ein recht kontinuierlicher Zeitablauf kennzeichnend.

Goethe sah im Zentrum der Novelle "eine sich ereignete unerhörte Begebenheit" (Gespräch mit Eckermann vom 25.1.1827). Sie fungiert als Wendepunkt des Geschehens und wird bildhaft durch das Motiv des "Falken" veranschaulicht. (Dieses Motiv geht auf eine Novelle von Boccaccio zurück, in der ein Ritter all seinen Besitz aufbietet, um das Herz einer Dame zu gewinnen. Zum Schluß bleibt ihm nur noch sein Falke. Als er ihn opfert und seiner Dame zum Mahle vorsetzt, ist sie so gerührt, daß sie ihn schließlich erhört. Somit wird der Falke zum Wendepunkt der Geschichte. Die "Falkentheorie" zur Beschreibung der Form der Novelle ist durch Paul Heyse [1830-1914] berühmt geworden.) Die Zeichnung der Charaktere und ihrer Umwelt ist der Novelle weniger wichtig. Eher kommt es ihr darauf an, außergewöhnliche Begegnungen darzustellen, die allerdings nicht psychologisch motiviert sind, sondern ihren Grund im Einbruch schicksalhafter Mächte in scheinbar geordnete Lebensverhältnisse finden. Demzufolge spielt der Zufall eine bedeutende Rolle als Motor des Geschehens.

Von novellenhaften Erzählungen (wie Tausendundeine Nacht aus dem orientalischen Bereich) abgesehen, tritt die Novelle als eine höchst formbewußte Erzählung in der italienischen Frührenaissance mit Giovanni Boccaccios Il Decamerone (1353) hervor. Die Rahmenerzählung führt eine Gesellschaft von sieben Damen und Herren vor, die vor der Pest von 1348 aus Florenz auf ein Landgut geflüchtet sind. Um die Wartezeit zu verkürzen, erzählen sie sich dort an zehn Tagen insgesamt hundert "novelle" mit meist erotischer Thematik. Diesem ersten Novellenzyklus folgen weitere in Italien, England (Geoffrey Chaucer mit den Canterbury Tales von 1387ff.) und Frankreich (Marguerite de Navarra mit dem Heptaméron von 1558). In Spanien ist es Miguel de Cervantes, der mit den Novelas ejemplares (1613) den Schwerpunkt von der Handlung auf den Charakter der Figuren verlegt. In seinen "Musternovellen" werden Charaktere dargestellt, die sich in entscheidenden Situationen bewähren müssen.

Christoph Martin Wieland übernimmt die Form und den Begriff der Novelle um 1760 in die deutsche Literatur. Während Goethes Novellen (z.B. Unterhaltungen deutscher Ausgewanderter von 1795 oder Novelle von 1827) mit der Darstellung eines gesellschaftlichen (Katastrophen-) Hintergrundes weitgehend dem Modell Boccaccios treu bleiben, fließen bei den Novellenautoren der Romantik (wie Ludwig Tieck, Clemens Brentano oder E.T.A. Hoffmann) märchenhafte und ironische Züge in die Form ein.

Heinrich von Kleist dagegen führt in seinen überaus straff komponierten rahmenlosen Novellen (erschienen um 1810) die bei Cervantes angelegte Entwicklung weiter. Der deutschsprachige bürgerliche Realismus des 19. Jahrhunderts bevorzugte die Novelle - selbst gegenüber dem Roman - für die Darstellung seiner Lebenswelt und der Probleme des Individuums. Hier entwickelte sich eine bisher nicht gekannte stilistische und thematische Vielfalt: Charakterstudien und Naturschilderungen finden sich bei Anette von Droste-Hülshoff (Die Judenbuche, 1842), Adalbert Stifter (Studien, 1844-50) und Theodor Storm (Immensee, 1849 und Der Schimmelreiter, 1888). Conrad Ferdinand Mayer gestaltet geschichtliche Stoffe mit kunstvollen Rahmenhandlungen. Gottfried Keller schreibt mit Die Leute von Seldwyla (1856-74) Zyklen von teils komischen, teils tragischen Novellen (wie Kleider machen Leute und Romeo und Julia auf dem Dorfe). Theodor Fontane veröffentlicht seine Gesellschaftsnovellen, die oft schon in der Nähe des Romans angesiedelt sind.

Auch im 20. Jahrhundert bleibt die Novelle eine produktive Kunstform. Davon zeugen u.a. viele Texte von Thomas Mann, Günter Grass (Katz und Maus, 1961) oder Christoph Hein (Der fremde Freund, 1982).

© JV und SR

Sekundärliteratur

  • H. Aust: Novelle, Stuttgart 1995.
  • W. Freund (Hg.): Deutsche Novellen, München 1998.
  • H. Schlaffer: Poetik der Novelle, Stuttgart 1993.