Fabel

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Neben der (strukturellen) Handlungsebene des literarischen Textes (vgl. histoire und discours) meint der Begriff der Fabel (gattungspoetisch) eine scharf konturierte, wenn auch historisch wandelbare Kurzform der Epik. In diesem zweiten Sinne ist die Fabel eine lehrhaft-sozialkritische, notwendigerweise kurze Beispielerzählung in Versen oder Prosa. An ihrem Schluß wird meist eine Morallehre formuliert, die der Leser auf konkrete Fälle seines eigenen Erfahrungsbereiches anwenden kann.

Die Handlung der Fabel findet meist in einem unrealistisch kulissenhaften Raum statt, der oft von einer angedeuteten Naturszenerie gebildet wird. Als Figuren treten vorwiegend Tiere, seltener Pflanzen und Dinge auf. Sie sind unterschiedlich stark vermenschlicht, besitzen also neben ihren natürlichen Eigenschaften auch Vernunft und Sprache. Menschen, verkörperte Abstrakta oder mythische Gestalten treten dagegen sehr selten auf. Die Fabelfiguren sind nicht psychologisch, sondern mechanistisch konstruierte Wesen, die bestimmte Eigenschaften verkörpern. Diese Qualitäten können den Figuren traditionell relativ fest zugeordnet sein (wie die Schlauheit dem Fuchs oder die Einfalt dem Esel). Die Handlung der Fabel verläuft linear und zeichnet soziale Konstellationen und politische Bewegungen nach - wie in den häufigen Szenen der Gerichtsverhandlung oder dem Reichstag im fiktiven Tierreich. Die Figuren fungieren dabei als Träger wichtiger sozialer Eigenschaften, wobei der Löwe häufig als König dargestellt wird. Es sind also häufig gesellschaftliche Konflikte, Episoden aus dem Kampf zwischen Mächtigen und Machtlosen, die die Fabelhandlung konstituieren. Dabei können sich die anfänglichen Machtverhältnisse entweder bestätigen und verschärfen, sie können aber auch in der Pointe in ihr Gegenteil umschlagen. Dementsprechend lassen sich die Lehren der Fabeln als Lebensregeln für konkrete Situationen verstehen, die zu Akzeptanz oder Kritik der bestehenden Verhältnisse anregen.

Formal ist die Variationsbreite der Fabel begrenzt. Im typischen Bauschema folgt auf das "Beispiel" die "Lehre". Es gibt aber auch Formen mit vorangestellter "Lehre" und solche mit zweifacher "Lehre". In struktureller Hinsicht können Fabeln stärker dramatisiert (mit dialogischen Zuspitzungen) oder stärker episiert (mit ausschmückenden Beschreibungen der Situation) erscheinen. Letztlich entscheidet die Absicht des Autors darüber, ob der belehrende, kritisierende, satirische oder auch fabulose Stil in der Darstellung überwiegt.

Die ältesten Fabeltexte stammen aus dem 2. Jahrtausend v. Chr. aus Mesopotamien. Die europäische Tradition ist durch die Rezeption orientalischer Sammlungen, aber vor allem durch die griechischen Fabeln des Sklaven Äsop (6. Jahrhundert v. Chr.) geprägt. Durch die Vermittlung des lateinischen Dichters Phaedrus und die Auflösung seiner Verse in Prosa gelangte das äsopische Fabelgut ins Mittelalter. Bedeutende Dichter des deutschen Spätmittelalters sind der 'Stricker' mit seinen religiös motivierten bíspeln (mhd.: Beispiele) um 1230, der eher sozialkritische Hugo von Trimberg (um 1310) und Ulrich Boner mit seiner sehr populären Sammlung Der Edelstein (gegen 1350). Eine erste Blüte erlebte die Fabeldichtung in der Zeit der Reformation und des Humanismus. Im neuen Medium des gedruckten Buches veröffentlichten Heinrich Steinhöwel (um 1480) oder auch Martin Luther (postumer Druck 1557) ihre Werke. Während das deutsche Barock die Fabel verachtete, führte sie der französische Dichter Jean de La Fontaine mit seinen Fables (1668-1694) auf einen weltliterarischen Höhepunkt. Als klassischer englischer Fabelautor steht John Gay (1685-1732) neben ihm. Der Rationalismus der Aufklärungsepoche brachte der deutschen Fabel, besonders zwischen 1740 und 1770, eine zweite Blütezeit. Neben Friedrich von Hagedorn, Christian Fürchtegott Gellert und anderen ragt vor allem Gotthold Ephrahim Lessing hervor. Er kritisierte La Fontaines Auffassung der Fabel als gefällig-amüsante und episch ausgeschmückte Erzählung und entwickelte eine eigene Theorie, in der er eine prägnat-intellektuelle Kurzform forderte und auch selbst praktizierte. Lessing definierte die Fabel so: "Wenn wir einen allgemeinen moralischen Satz auf einen besonderen Fall zurückführen, diesem besonderen Fall die Wirklichkeit erteilen, und eine Geschichte daraus dichten, in welcher man den allgemeinen Satz anschauend erkennt, so heißt diese Erdichtung eine Fabel." (Abhandlungen zur Fabel, 1759) Von einigen Autoren - wie August Christian Fischer mit seinen Politischen Fabeln von 1796 oder Gottlieb Konrad Pfeffel - wurde die Sozialkritik der Fabel bis zu einem revolutionären Antifeudalismus verschärft. Im 19. Jahrhundert gilt der Russe Iwan A. Krylow (1768-1843) als ein hervorragender Fabeldichter. In Deutschland wird die Fabel zur gleichen Zeit immer mehr als Lesegut für Kinder festgelegt, so in Wilhelm Heys zum Sentimentalen neigenden Fünfzig Fabeln für Kinder aus dem Jahr 1835.

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Quelle

Sekundärliteratur